Verhältnismäßigkeit der mit Entkleidung verbundenen körperlichen Durchsuchung eines Inhaftierten

BVerfG 2 BvR 2815/11 -- Beschluss vom 10. Juli 2013

von Life and Law am 01.05.2014

+++ Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der körperlichen Durchsuchung von Inhaftierten +++ Allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I, 1 I GG +++ Recht auf effektiven Rechtsschutz, Art. 19 IV GG +++ Urteilsverfassungsbeschwerde +++

Sachverhalt: A verbüßte in einer Justizvollzugsanstalt eine Haftstrafe wegen Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte. Vor einer Vorführung zum Gericht wurde er unter vollständiger Entkleidung und mit Inspektion aller Körperöffnungen, auch jener im Intimbereich, durchsucht, im Anschluss daran gefesselt und per Einzeltransport in Begleitung zweier Justizvollzugsbediensteter zum Gericht gefahren. Diese übergaben A bei der Ankunft an zwei Wachtmeister, die ihn zu seinem Gerichtstermin begleiteten und, nachdem dieser nach 20 Minuten beendet war, wieder den Justizangestellten übergaben. Diese verbrachten A wieder in die JVA, wo er von seinen Fesseln befreit und in Ausführung einer allgemeinen Anordnung des Amtsleiters nach einer Entkleidung neuerlich körperlich, insbesondere auch im Analbereich, durchsucht wurde. Die Anordnung beruht auf einer § 84 III StVollzG entsprechenden Norm eines Landesstrafvollzugsgesetzes, dem § 64 III BW JVollzGB III. Grund der Maßnahme und gleichzeitig Zweck der Norm ist es, das Einschmuggeln von verbotenen Gegenständen, etwa Drogen, in die JVA zu verhindern. Gem. § 109 StVollzG beantragte A gegen die neuerliche Durchsuchung bei der Rückkehr in die JVA gerichtliche Entscheidung. Zur Begründung trägt er vor, dass er die Prozedur als in höchstem Maße erniedrigend empfand. Die Gefahr, dass er verbotene Gegenstände mit in die JVA bringt, sei ausgeschlossen gewesen, weil er während seiner Zeit außerhalb der JVA ständig unter Aufsicht von zwei Beamten gestanden habe. Er habe auch ausschließlich Kontakt mit Amtsträgern gehabt. Die nochmalige Durchsuchung mittels Entkleiden bei Rückkehr in die JVA sei deshalb unverhältnismäßig. So hätte nach seiner Ansicht etwa auch eine Durchsuchung durch Abtasten oder mittels eines Metalldetektors ohne Entkleiden ausgereicht. Das Landgericht folgte dieser Argumentation nicht und wies den Antrag des A mittels Beschluss ab. Es erkannte, dass bei A in der konkreten Situation tatsächlich keine Verdachtsmomente für ein Einschmuggeln vorlagen. Dies sei aber im Rahmen des § 64 III BW JVollzGB III verzichtbar. Eine Ermessensüberprüfung im Einzelfall, so das Gericht, müsse nicht durchgeführt werden. Darüber hinaus setzte es sich mit dem Vorbringen des A nicht auseinander. Gegen diese Entscheidung legte A Rechtsbeschwerde zum OLG ein. Ergänzend brachte er dabei zutreffend vor, dass nach der Rechtsprechung des EGMR für eine Durchsuchung von üblicherweise bedeckten Körperöffnungen der Verdacht erforderlich sei, dass dort verbotene Gegenstände versteckt sind. Dieser Verdacht könne bei ihm nicht bestanden haben, sodass die entwürdigende Maßnahme nicht hätte durchgeführt werden dürfen. Auch sei er kein besonders gefährlicher oder fluchtgefährlicher Gefangener, wie die Delikte zeigen, wegen welchen er verurteilt worden ist. Das OLG verwarf die Rechtsbeschwerde ohne Begründung zur Sache als unzulässig, weil die Gründe, für die § 116 I StVollzG eine Rechtmittelentscheidung zulässt, nicht vorlägen. Nunmehr erhebt A -- Rechtsmittel sind gegen die Entscheidung des OLG nicht gegeben -- gegen die Entscheidungen des LG und des OLG Verfassungsbeschwerde. Er rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I, 19 IV GG.

Hat eine form- und fristgerecht eingelegte Verfassungsbeschwerde des A gegen die Entscheidungen Aussicht auf Erfolg? Auf Art. 4 I, II GG sowie Art. 103 I GG ist nicht einzugehen.

A) Sounds

1. Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen insbesondere dann einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar, wenn sie mit einer Inspizierung von normalerweise bedeckten Körperöffnungen verbunden sind.

2. Für Fälle, in denen eine abstrakte Gefahr des Einbringens von Drogen und anderen verbotenen Gegenständen in die Vollzugsanstalt besteht, kann eine körperliche Durchsuchung allgemein zugelassen werden. Dies gilt jedoch unter dem Vorbehalt einer Abweichung in Einzelfällen aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten.

3. Die Einräumung der Möglichkeit, von der Begründung einer Rechtsbeschwerdeentscheidung abzusehen, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Ein unbegründeter Beschluss ist jedoch einer verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht entzogen. In einem solchen Fall ist die Entscheidung bereits dann aufzuheben, wenn an ihrer Vereinbarkeit mit den Grundrechten erhebliche Zweifel bestehen.

B) Problemaufriss

Der Kammerbeschluss des BVerfG über die Verfassungsbeschwerde eines Häftlings wirft verschiedene Probleme aus dem Bereich der Grundrechte auf. Zunächst ist ein Eingehen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht erforderlich, in dessen Rahmen die Feststellung eines Eingriffs nicht schwer fällt. Problematisch ist dagegen die Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Das BVerfG setzt sich in diesem Rahmen intensiv und schwerpunktmäßig mit den Spezifika des Falles auseinander, ein Vorgehen, das auch als Prüfungsleistung ohne weiteres verlangt werden kann. Dabei wird auch das Problem der Berücksichtigung einer einschlägigen Rechtsprechung des EGMR relevant. Der Umgang damit fällt hier durch Anwendung der gefestigten Rechtsprechung des BVerfG leicht, doch mag gerade die nicht fallentscheidende Möglichkeit der Prüfung dieses aktuellen und sehr wichtigen Problems den Fall für Klausurersteller besonders geeignet erscheinen lassen.

Bei der Grundrechtsprüfung ist stets im Blick zu behalten, dass der Antragsteller als Häftling vorliegend in einem besonderen Gewaltverhältnis steht, was -- letztlich ohne praktische Auswirkungen -- an geeigneter Stelle in die Lösung einzubringen ist.

Eine spezielle Fragestellung wirft die Prüfung der Rechtsmittelentscheidung des OLG auf. Denn dabei ist ein Verstoß gegen Art. 19 IV S. 1 GG zu untersuchen, wobei insbesondere auf die exakte Maßstabsbildung zu achten ist.

C) Lösung

Die Verfassungsbeschwerde des A hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Die Verfassungsbeschwerde des A müsste zulässig sein. Es müssten alle Sachentscheidungsvoraussetzungen vorliegen.

Für die Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde findet sich eine enumerierte Zuständigkeit des BVerfG in Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 8a BVerfGG.

Bei dem Beschluss des OLG handelt es sich um einen tauglichen Beschwerdegegenstand. Erfasst sind gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG alle Akte der grundrechtsgebundenen öffentlichen Gewalt; hierzu gehören auch solche Akte der Judikative.1 Es liegt eine sog. Urteilsverfassungsbeschwerde vor. Beschwerdegegenständlich ist daneben gleichzeitig auch die Ausgangsentscheidung des LG.2

A kann als natürliche Person Grundrechtsträger sein und damit „Jedermann" i.S.d. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. § 90 I BVerfGG.3 Er ist überdies beschwerdebefugt. Hierzu müsste er die Möglichkeit substantiiert dartun, durch den angegriffenen Akt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein.4 Die Darlegung der Verletzungsmöglichkeit gelingt A in Bezug auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht gem. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG, sowie das Grundrecht des Art. 19 IV S. 1 GG wegen einer möglichen Verletzung des subjektiven Rechts auf effektiven Rechtsschutz. Subsidiär hierzu kann jedenfalls Art. 2 I GG verletzt sein. A ist überdies selbst, gegenwärtig und, da die Entscheidung des OLG keinen Vollzugsakt erfordert, auch unmittelbar betroffen.5 Hinsichtlich der Grundrechtsverletzungen ist dabei zwischen den Streitgegenständen zu differenzieren. So betrifft die Rüge des Art. 19 IV S. 1 GG nur die Rechtsmittelentscheidung des OLG, während die anderen Grundrechtsverstöße zunächst durch den Beschluss des LG erfolgen und durch die Entscheidung des OLG bestätigt werden. Bei diesen ist somit eine Zusammenfassung der Streitgegenstände möglich.

Form und Frist der Einlegung der Verfassungsbeschwerde sind laut Sachverhalt eingehalten.

Der Rechtsweg ist i.S.d. § 90 II BVerfGG erschöpft, da gegen die Beschwerdeentscheidung des OLG kein Rechtsmittel gegeben ist. Auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten ergeben sich keine Einschränkungen. Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis ist bei A gegeben.

Zwischenergebnis: Alle Sachentscheidungsvoraussetzungen liegen vor. Die Verfassungsbeschwerde ist mithin zulässig.

II. Begründetheit

Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet, wenn die angegriffenen Entscheidungen des LG und des OLG tatsächlich gegen Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verstoßen. Dabei prüft das BVerfG nicht die Verletzung einfachen Rechts, sondern nur diejenige spezifischen Verfassungsrechts. Das BVerfG ist keine Superrevisionsinstanz.6 Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG prüft sie aber darauf hin, ob sie die Grenze der Willkür überschreiten oder die Bedeutung eines Grundrechts grundsätzlich verkennen.7

hemmer-Methode: Wegen des Problems des Verhältnisses zwischen BVerfG und den Fachgerichten bei Urteilsverfassungsbeschwerden empfiehlt es sich hier, den Prüfungsmaßstab stets kurz zu konkretisieren. Dies hat das BVerfG auch in der gegenständlichen Entscheidung getan.

1. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG

Die Entscheidungen könnten das allgemeine Persönlichkeitsrecht des A verletzen.

Anmerkung: Die Prüfung beginnt mit den Grundrechtsrügen, die sich entsprechend der obigen Differenzierung an beiden angegriffenen Entscheidungen festmachen lassen.

a) Verminderter Grundrechtsschutz

A ist Strafgefangener, er befindet sich also in einem sog. besonderen Gewaltverhältnis oder, moderner ausgedrückt, Sonderstatusverhältnis.8 Die früher vertretene Impermeabilitätstheorie verneinte einen Grundrechtsschutz für Personen, die im Rahmen solcher Verhältnisse in den Innenbereich des Staates einbezogen sind. Diese Auffassung ist mittlerweile überholt.9 Die Grundrechte finden auch in diesem Verhältnis grundsätzlich unrelativiert Anwendung. Insbesondere unterliegen Eingriffsakte im Rahmen besonderer Gewaltverhältnisse der allgemeinen Grundrechtsbindung und es gelten grundsätzlich die gleichen Rechtfertigungsanforderungen, wie sie außerhalb solcher Verhältnisse gelten.10 Auch kann der Grundrechtsschutz nicht anhand der Unterscheidung von Grund- und Organisationsverhältnis relativiert werden. Die allgemeinen Rechtfertigungsanforderungen hängen -- entgegen der teils früher vertretenen Ansicht -- nicht davon ab, ob der Staat in einem besonderen Gewaltverhältnis in das Grundverhältnis (den Status, in dem eine Person wie jeder Dritte dem Staat gegenübersteht) oder in das Organisations- bzw. Dienstverhältnis eingreift. Auch wenn Sonderstatusverhältnisse gleichwohl funktional stärkere Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen können, sind diese an den allgemeinen grundrechtlichen Maßstäben zu messen.11

a) Schutzbereich

Der Schutzbereich des Grundrechts müsste eröffnet sein. In personeller Hinsicht gilt das allgemeine Persönlichkeitsrecht jedenfalls für natürliche Personen, wobei der Schutz nicht auf Deutsche beschränkt ist,12 sodass A in dieser Hinsicht ohne weiteres in den Schutzbereich fällt. Sachlich schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht als offener Tatbestand verschiedene Züge eines Bereichs der engeren persönlichen Lebenssphäre und gewährleistet die Erhaltung ihrer Grundbedingungen.13 Diese sind seitens des Staates zu achten. Das Grundrecht verleiht dem Einzelnen das Recht, sich zurückzuziehen und abzuschirmen.14 Eine nähere Konturierung erfährt das allgemeine Persönlichkeitsrecht durch eine mittlerweile in der Rechtsprechung gefestigte Fallgruppenbildung.15 Von diesen anerkannten Fallgruppen greift vorliegend der Schutz der inneren Lebenssphäre ein. Dieser Schutzaspekt ermöglicht dem Einzelnen die Abwehr von Beeinträchtigungen, welche die individuelle Privatsphäre negieren.16

Zwischenergebnis: Der Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist eröffnet.

b) Eingriff

In diesen Schutzbereich müssten die angegriffenen Entscheidungen eingreifen. Unter einem Eingriff ist dabei jedes dem Staat zurechenbare Verhalten zu verstehen, das eine Freiheitsbetätigung, die in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder zum Teil unmöglich macht oder beschränkt. Der Zurechnungstatbestand, als „Staat" zu handeln, kennzeichnet sich beim klassischen Grundrechtseingriff durch die Merkmale der Rechtsförmigkeit, Imperativität, Finalität und Unmittelbarkeit.17

hemmer-Methode: Abschließend sind diese Zurechnungskriterien nicht. Der Zurechnungstatbestand hat bezüglich jedes Merkmals mittlerweile Erweiterungen erfahren, sog. moderner Eingriffsbegriff.18 Gleichwohl sollte der klassische Eingriffsbegriff in der Klausur stets als Ausgangspunkt genutzt werden, da seine Erfüllung jedenfalls ausreicht und sich Ausführungen zu bestimmten Erweiterungen dann erübrigen.

Indem die streitgegenständlichen Entscheidungen des LG und des OLG die Rechtmäßigkeit der körperlichen Durchsuchung gegen A bestätigen, greifen die Beschlüsse in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht ein. Bei den Gerichtsentscheidungen sind alle Merkmale des klassischen Eingriffsbegriffs erfüllt.

c) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Dieser Eingriff führt dann zu einer Grundrechtsverletzung, wenn er nicht gerechtfertigt ist.

aa) Einschränkbarkeit des Grundrechts

Dies setzt zunächst voraus, dass das betreffende Grundrecht überhaupt einschränkbar ist. Für das allgemeine Persönlichkeitsrecht gelten entsprechend seiner Herleitung die Schranken des Art. 2 I GG.19 Relevant ist somit vor allem -- es ist streitbar, ob die anderen Schranken des Art. 2 I GG überhaupt eine eigenständige Bedeutung entfalten -- die extensive Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung.20 Hiernach können grundsätzlich alle formell und materiell verfassungsmäßigen Rechtsnormen einen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht rechtfertigen.21 Vorliegend füllt die Norm des § 64 III BW JVollzGB III diesen Gesetzesvorbehalt grundsätzlich aus, sodass die diese Norm anwendenden Beschlüsse als Grundrechtseingriffe gerechtfertigt sein könnten.

bb) Anforderungen an die Schranke

Fraglich ist, ob diese einschränkenden Maßnahmen ihrerseits mit der Verfassung in Einklang stehen (sog. „Schranken-Schranken"). Dies wäre dann der Fall, wenn das den Schrankenvorbehalt ausfüllende Gesetz seinerseits verfassungskonform ist und die Anwendung des Gesetzes durch die Eingriffsakte im Einzelfall verfassungsmäßig war.

(1) Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage

Die Normen des Landesstrafvollzugsgesetzes sind formell und materiell verfassungsmäßig. Die Norm des § 64 III BW JVollzGB III mit einem dem § 84 III StVollzG entsprechenden Inhalt sieht auf der Rechtsfolgenseite ein Ermessen vor (vgl. wortlautgemäß „kann"). Zwar bedarf es für eine Durchsuchung keiner besonderen Verdachtsgründe, doch ist es aus Gründen der Verhältnismäßigkeit möglich, von einer allgemeinen Anordnung, wie sie die Norm ausreichen lässt, im Einzelfall abzusehen.22 Trotz des aus Gründen der effektiven Abwehr von Gefahren für die Sicherheit und Ordnung in der JVA grundsätzlich ausreichenden abstrakten Gefahrentatbestandes kann die Norm somit jedenfalls im Einzelfall verfassungskonform ausgelegt und angewendet werden.

hemmer-Methode: Entsprechend kurz äußert sich das BVerfG zu dieser Frage. In Klausuren bietet sich eine solche knappe Prüfung durchaus an, um Systemverständnis zu demonstrieren. Wenn der Sachverhalt aber keinerlei Hinweise auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes als solches enthält, erscheint es nicht zwingend, diese Prüfungsebene anzusprechen. Es kann dann direkt zur Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes übergegangen werden.

(2) Verfassungsmäßigkeit der Anwendung im Einzelfall

Die Prüfung konzentriert sich deshalb auf die angegriffenen Einzelakte in Form der Beschlüsse des LG und des OLG. Zumal weitere Fehler nicht ersichtlich sind, verengt sich die Prüfung auf diejenige der Verhältnismäßigkeit. Das LG hat unter dem Hinweis darauf, dass die Gefahr des Einschmuggelns verbotener Gegenstände stets abstrakt vorhanden sei, die einzelfallbezogene Überprüfung der Verhältnismäßigkeit unterlassen. Damit hat es die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verkannt. Entsprechend den obigen Ausführungen erfordert die Rechtsgrundlage der Durchsuchung des A, § 64 III BW JVollzGB III, eine einzelfallbezogene Ermessensentscheidung dahingehend, ob von einer Durchsuchung ausnahmsweise abgesehen werden kann. Diese Verkennung des Prüfungsmaßstabes durch das LG bliebe nur dann folgenlos, wenn die gegen A getroffene Maßnahme einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit vor dem Hintergrund des allgemeinen Persönlichkeitsrechts standhielte.

Dies ist im Folgenden zu prüfen. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit unterliegt im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Besonderheiten dahingehend, dass sich die Prüfungsintensität nach der Schwere des Eingriffs richtet, wobei die h.M. einen graduell abgestuften Maßstab anlegt, je nachdem, ob die Intimsphäre, die Privatsphäre oder die Sozialsphäre betroffen ist.23 Die Entkleidung eines Gefangenen und die Untersuchung der Körperöffnungen im Intimbereich greifen sehr schwerwiegend in das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein. Weil aber ein Sozialbezug angesichts des Maßnahmezwecks zu bejahen ist, kann nicht von einem nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Intimsphäre ausgegangen werden.24 Vielmehr ist ein Eingriff in die Privatsphäre gegeben, der gleichsam erhöhten Rechtfertigungsanforderungen unterliegt.

(a) Legitimer Zweck

Die Maßnahme verfolgte den auch dem StVollzG zu Grunde liegenden legitimen Zweck der Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung des Strafvollzugs in der JVA, indem das Einschmuggeln von Gegenständen wie Waffen, Drogen, Mobiltelefonen und Ähnlichem in die JVA verhindert werden soll.25

(b) Geeignetheit

Hierzu ist die Durchsuchung von Körperöffnungen unter Entkleidung von Gefangenen nach Außenkontakt auch geeignet. Erfahrungsgemäß gelangen die genannten Gegenstände gerade auf diesem Wege in die JVA. Mit einer intensiven Durchsuchung kann dieser Gefahr wirksam vorgebeugt werden. Tatsächlich war auch das Vorgehen gegen A geeignet, der Gefahr des Einschmuggelns verbotener Gegenstände wirksam zu begegnen. Im Übrigen ist die Prüfungsintensität auf dieser Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu Gunsten einer hoheitlichen Einschätzungsprärogative reduziert.26

(c) Erforderlichkeit

Die Durchsuchung gegen A, welche die Beschlüsse des LG und des OLG bestätigen, müsste auch erforderlich gewesen sein. Dies ist dann der Fall, wenn der legitime Zweck der Maßnahme nicht auch mit anderen äquivalent geeigneten, aber mit einem weniger schwerwiegenden Grundrechtseingriff verbundenen, also einem relativ milderen Mittel hätte erreicht werden können.27 Dies ist hier fraglich. So wäre mit einem Abtasten des bekleideten Gefangenen und eventuell einer Durchsuchung mittels eines Metalldetektors ein deutlich weniger intensiver Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht verbunden gewesen. Doch ist fraglich, ob diese Maßnahmen ebenso effektiv sind wie die Durchsuchung des A, um die Gefahr des Einschmuggelns mit hinreichender Sicherheit ausschließen zu können. Angesichts der für § 64 III BW JVollzGB III erforderlichen abstrakten Gefahr bei jedem Außenkontakt ist nicht davon auszugehen, dass diese Maßnahmen grundsätzlich eine äquivalente Eignung aufweisen. Diese der Maßnahme zu Grunde liegende Norm geht offensichtlich davon aus, dass die Gefahren des Einschmuggelns verbotener Gegenstände nur durch die Untersuchung des entkleideten Gefangenen wirksam ausgeschlossen werden können. Als Teil der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative ist diese Einschätzung auf dieser Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung hinzunehmen.28

(d) Angemessenheit

Fraglich ist aber, ob die Maßnahme der nochmaligen Durchsuchung des A bei seiner Rückkehr bzw. die Bestätigung dieser Maßnahme durch die Gerichte angemessen, also im engeren Sinne verhältnismäßig waren. Dabei hat eine umfassende Abwägung zwischen dem Eingriffszweck und den grundrechtlich geschützten Interessen des A stattzufinden. Zu Gunsten des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des A ist die intensive Betroffenheit in der Privatsphäre durch die Maßnahme einzustellen. Dagegen wiegt der Gegenpol des Sicherheitsinteresses im vorliegenden Fall nur sehr gering. Die Gefahr, dass A verbotene Gegenstände mit in die JVA gebracht haben könnte, sodass eine neuerliche Untersuchung bei der Rückkehr erforderlich gewesen wäre, war denkbar gering. A befand sich während der gesamten Zeit seines Aufenthalts außerhalb der JVA in Begleitung von Justizbediensteten und hatte keinen Kontakt zu anderen Personen als Amtsträgern, von denen er verbotene Gegenstände eventuell hätte erhalten können. Auch war sein Aufenthalt außerhalb der JVA mit 20 Minuten sehr kurz und er befand sich nur bei Gericht. Schließlich ist zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass die von ihm verwirklichten Straftaten nicht unmittelbar auf ein erhöhtes Risiko des Einschmuggelns bestimmter verbotener Gegenstände, allen voran Betäubungsmittel, schließen lassen. Diese Position relativierend kann nicht angeführt werden, dass mit der Prüfung dieser Umstände im Einzelfall eine Verkomplizierung von Verwaltungsabläufen in der JVA verbunden ist. Denn zwar kann der Beklagte nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sachliche Mittel aufgewendet werden, um eine Beschränkung seiner grundrechtlichen Freiheiten zu verhindern. Allerdings ist hier mit der Entkleidung und Untersuchung des Intimbereichs ein besonders sensibler Bereich des Persönlichkeitsrechts betroffenen, der das Schamgefühl des Gefangenen sehr stark berührt. Solche Maßnahmen erfordern eine besondere Rücksichtnahme auch, wenn mit ihnen ein womöglich erhöhter Verwaltungsaufwand einhergeht. Damit ist die Anordnung der nochmaligen körperlichen Durchsuchung des A bei seiner Rückkehr in die JVA nicht angemessen und mithin nicht verhältnismäßig.

Dieses Ergebnis bestätigt die Rechtsprechung des EGMR, die zu Art. 3 EMRK ergangen ist. Hiernach müssen Maßnahmen im Strafvollzug, die mit einer Inspektion von üblicherweise verdeckten Körperöffnungen verbunden sind, für den Betroffenen so schonend wie möglich durchgeführt werden. Sie dürfen nicht routinemäßig und unabhängig von fallbezogenen Verdachtsgründen angeordnet werden.29 Diese Auffassung ist nach der mittlerweile gefestigten Ansicht des BVerfG bei der Auslegung der Grundrechte heranzuziehen.30 Auch unter diesem Blickwinkel ergibt sich somit die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme im Hinblick auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des A.

2. Art. 2 I GG

Die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 I GG tritt subsidiär hinter das einschlägige besondere Freiheitsrecht der Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG zurück.31

3. Art. 19 IV S. 1 GG

Die Rüge des Art. 19 IV S. 1 GG richtet sich spezifisch gegen die Entscheidung des OLG als Rechtsmittelinstanz. Dieses verwarf die Rechtsbeschwerde des A ohne Begründung in der Sache als unzulässig, weil die Rechtbeschwerde mangels Vorliegen eines Zulassungsgrundes unzulässig sei. Darin könnte eine Verletzung des Art. 19 IV S. 1 GG liegen. Diese Norm gewährt dem Einzelnen ein subjektives Recht auf effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz.32 Der Begriff der öffentlichen Gewalt in Art. 19 IV S. 1 GG ist restriktiv auszulegen. Die Norm gewährt keinen Rechtsschutz gegen Akte der Judikative. Sie fordert keinen Instanzenzug.33 Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 IV S. 1 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle.34 Dieses Recht darf nicht dadurch ausgehöhlt werden, dass die Rechtsmittelgerichte ein von der Rechtsordnung zur Verfügung gestelltes Rechtsmittel in einer Art und Weise handhaben, die den Zugang zu einer Sachentscheidung für den Rechtsschutzsuchenden unzumutbar erschwert. Rechtsmittel dürfen im Rahmen der richterlichen Auslegung und Anwendung der entsprechenden Vorschriften nicht dadurch ineffektiv gemacht werden, dass sie von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht werden.35

Die Entscheidung ist der verfassungsrechtlichen Prüfung nicht etwa dadurch entzogen, dass das OLG von der einfachgesetzlichen Möglichkeit, von einer Begründung der Rechtsbeschwerde abzusehen, Gebrauch gemacht hat. Auch geht damit keine Lockerung des Prüfungsumfangs einher. Vielmehr ist die Entscheidung schon dann als mit grundrechtlichen Maßstäben unvereinbar anzusehen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten bestehen.

Wegen der evidenten, zumindest unzureichenden Auseinandersetzung der Vorinstanz mit den grundrechtlichen Belangen des A ist dies hier der Fall. Dem OLG hätte sich aufdrängen müssen, dass die Entscheidung der Vorinstanz womöglich Grundrechte des A verletzt, sodass die bestätigende Entscheidung, mit der die Rechtsbeschwerde als unzulässig verworfen wird, nach den gebildeten Maßstäben als Verstoß gegen Art. 19 IV S. 1 GG anzusehen ist.

Zwischenergebnis: Die Verfassungsbeschwerde des A ist begründet.

III. Ergebnis

Sie ist somit zulässig und begründet und hat daher Aussicht auf Erfolg.

D) Kommentar

(bb). Ungeachtet der vorinstanzlichen Entscheidungen ist das Ergebnis des BVerfG eigentlich eindeutig und selbstverständlich begrüßenswert. Die Entscheidung zeigt insoweit anschaulich, wie wichtig das BVerfG als „Hüter der Verfassung" und damit unserer Werteordnung für unsere Gesellschaft ist. Die unteren Gerichte scheinen doch manchmal im Alltag nicht gewillt zu sein, sich eingehend mit den verfassungsrechtlichen -- hier eigentlich eindeutigen -- Wertungen auseinander zu setzen. An dieser Stelle ein „Dank" nach Karlsruhe für eine besonnene, wohlbegründete Entscheidung zum Wohle der Wahrung von Grundrechten.

Für die Klausur zählt allerdings nicht nur das richtige Ergebnis. Gerade bei Verfassungsbeschwerden kommt es auf einen klar strukturierten Aufbau an. Insbesondere bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sollten Sie zudem präzise die einzelnen Anforderungen abschichten und nicht mit dem Ergebnis „ins Haus fallen". Die eigentliche Abwägungsentscheidung wird regelmäßig erst bei der Angemessenheit (= Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) getroffen werden.

E) Zur Vertiefung

  • Zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 162 ff.

  • Zum Recht auf effektiven Rechtsschutz

Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 323 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Welche Besonderheiten sind bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung im

    Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu beachten?

  2. Welche Anforderungen stellt Art. 19 IV S. 1 GG an ein von Gesetzes wegen eröffnetes Rechtsmittel?

  1. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 175.

  2. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 51.

  3. Zur Definition vgl. Jarass/Pieroth, Art. 93 GG, Rn. 48.

  4. Allgemein Sachs, Art. 93 GG, Rn. 88.

  5. Vgl. allgemein Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 45 ff.

  6. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 207.

  7. Vgl. BVerfGE 18, 85, 93

  8. Vgl. BVerfGE 33, 1, 1 ff.

  9. Vgl. Dreier, Vorb. GG, Rn. 134.

  10. Vgl. Jarass/Pieroth, Vorb. vor Art. 1 GG, Rn. 39; Sachs, Vor Art. 1 GG, Rn. 131.

  11. Vgl. Dreier, Art. 1 III GG, Rn. 65.

  12. Vgl. Epping/Hillgruber, Art. 2 GG, Rn. 47.

  13. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 39.

  14. Vgl. Muckel, JA 2013, 955, 955.

  15. Vgl. etwa die Übersicht bei Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 40 ff.

  16. Vgl. Dreier, Art. 2 I GG, Rn. 71.

  17. Vgl. Epping, Grundrechte, Rn. 392.

  18. Hierzu Hemmer/Wüst, Staatsrecht I, Rn. 110 ff.

  19. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 58.

  20. Zu diesem Problem und allg. zur Schrankentrias Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 17 ff.

  21. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 2 GG, Rn. 58.

  22. Zur Norm des Bundesrechts Callies/Müller-Dietz, § 84 StVollzG, Rn. 12.

  23. Instruktiv zur Sphärentheorie Epping/Hillgruber, Art. 2 GG, Rn. 35 ff.

  24. Allg. Epping/Hillgruber, Art. 2 GG, Rn. 39.

  25. Vgl. Callies/Müller-Dietz, § 84 StVollzG, Rn. 12.

  26. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 20 GG, Rn. 84.

  27. Vgl. Jarass/Pieroth, Art. 20 GG, Rn. 85.

  28. Vgl. BVerfGE 81, 70, 91 Sachs, Art. 20 GG, Rn. 152; Jarass/Pieroth, Art. 20 GG, Rn. 84.

  29. Vgl. EGMR, Urt. v. 04.02.2003, Nr.: 50901/99 (Van der Ven), Rn. 62.

  30. Vgl. BVerfGE 120, 180, 200 f.; 128, 326, 370 f.

  31. Vgl. Dreier, Art. 2 I GG, Rn. 99.

  32. Vgl. BVerfGE 67, 43, 58

  33. Vgl. Epping/Hillgruber, Art. 19 GG, Rn. 57.

  34. Vgl. BVerfGE 54, 94, 96 f.; 122, 248, 271

  35. Vgl. BVerfGE 117, 244, 268; 122, 248, 271