Rechtsprechungsübersicht Öffentliches Recht (1)

BVerfG, Beschluss vom 27.02.2014 -- 2 BvR 261/14

von Life and Law am 01.08.2014

+++ Einstweilige Anordnung gem. § 32 BVerfGG +++ Recht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 II S. 1 GG +++ Willkürverbot, Art. 3 I GG +++

Sachverhalt (vereinfacht): A soll vor einer Strafkammer des Landgerichts als Zeugin in der Hauptverhandlung gegen einen Angeklagten wegen des Verdachts der Begehung einer Mehrzahl von Sexual- und Körperverletzungsdelikten vernommen werden. Sie ist mutmaßliche Geschädigte, wobei die bisherigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben haben, dass der Täter der A bewusstseinstrübende Substanzen verabreichte, um mit ihr Geschlechtsverkehr zu haben. A ist die einzige Zeugin im Verfahren, die hierzu Aussagen machen kann. Sie beantragte, ihre Zeugenvernehmung gem. § 247a I StPO audiovisuell durchzuführen, da anderenfalls ein schwerwiegender Nachteil für ihr psychisches Wohl bestehe. Sie habe das Tatgeschehen, das bereits einige Jahre zurückliegt, vollständig verdrängt. Bereits die Vernehmung bei der Polizei habe sie seelisch sehr stark belastet, was sich -- wie durch ärztliches Gutachten belegt -- in einer posttraumatischen Belastungsstörung äußere. Sich diesbezüglich einstellende erste therapeutische Erfolge wären gefährdet, wenn sie mit dem Angeklagten im selben Raum konfrontiert wäre oder in der Atmosphäre der Hauptverhandlung das Tatgeschehen zumindest vor den anderen Verfahrensbeteiligten berichten müsste. Nach Einschätzung der die A behandelnden Ärztin für Psychotherapie könne es dadurch zu einer längerfristigen seelischen Destabilisierung oder Retraumatisierung kommen. Diese Auffassung teilt die die A betreuende Sozialarbeiterin des örtlichen Frauenhauses in einem schriftlichen Gutachten. Das Landgericht lehnte den Antrag ab. Zwar erkennt es an, dass A durch die Vernehmung stark belastet wird. Allerdings sei kein Grund dafür erkennbar, dass dies gerade aus der Anwesenheit in der Hauptverhandlung resultiere. Die Unzumutbarkeit der präsenten Aussage sei nicht eindeutig erwiesen. Des Weiteren sei es für das Gericht zwingend erforderlich, sich vom Aussageverhalten der A einen persönlichen Eindruck zu machen. Schließlich bestünden etwa mit dem Ausschluss der Öffentlichkeit, der Vermeidung der unmittelbaren Konfrontation mit dem Angeklagten und weiteren Maßnahmen ausreichende Möglichkeiten, die Interessen der A zu schützen. A wendet sich nach einer Woche gegen die Ablehnung ihres Antrags bezüglich § 247a I StPO mit einem Antrag auf Eilrechtsschutz an das BVerfG. Sie beruft sich auf ihre Grundrechte aus Art. 2 II S. 1 GG sowie Art. 3 I GG. Zu letzterem trägt sie vor, das Gericht habe sich von sachfremden Erwägungen leiten lassen, indem es die audiovisuelle Vernehmung in Wahrheit deshalb ablehne, weil die nötige Technik im Sitzungssaal defekt sei. Dies kam -- was zutrifft -- im Laufe des Verfahrens bereits zur Sprache.

Hat der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung Aussicht auf Erfolg?

Lösung: Der Antrag gem. § 32 BVerfGG hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

Zunächst müssten die Sachentscheidungsvoraussetzungen für den Antrag vorliegen.

1. Statthaftigkeit

Eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG kann ergehen, wenn das BVerfG für das Verfahren in der Hauptsache zuständig wäre. Vorliegend ist in der Hauptsache eine Verfassungsbeschwerde einschlägig. A macht eine Grundrechtsverletzung geltend. Sie rügt die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 II S. 1 GG sowie Art. 3 I GG. Für diese Verfassungsbeschwerde wäre das BVerfG gem. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG zuständig, sodass gleichzeitig die einstweilige Anordnung statthaft ist.

2. Antrag und Antragsberechtigung

Für das Verfahren der einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG ist ein Antrag gem. § 23 I BVerfGG erforderlich, den die A vorliegend gestellt hat. Die Antragsberechtigung folgt derjenigen im Hauptverfahren. Diese ist hier gegeben, da A als natürliche Person und somit Grundrechtsträgerin „Jedermann" i.S.d. Art. 93 I Nr. 4a GG i.V.m. §§ 13 Nr. 8a, 90 I BVerfGG ist.

3. Fehlende evidente Unzulässigkeit und keine Vorwegnahme der Hauptsache

Die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache dürfte nicht evident unzulässig sein. Hierfür sind keine Gründe ersichtlich. Insbesondere kann die Verfassungsbeschwerde noch fristgemäß erhoben werden, da die Monatsfrist des § 93 I S. 1 BVerfGG ersichtlich noch nicht abgelaufen ist. Auch die Hauptsache wird vorliegend nicht vorweggenommen. Da die Entscheidung nach § 32 BVerfGG lediglich der vorläufigen Sicherung eines Rechts und der Abwendung unmittelbar drohender Nachteile dient und aufgrund einer nur summarischen Prüfung ergeht, darf sie nicht die Entscheidung in der Hauptsache antizipieren. Dies ist hier nicht zu befürchten, da A ausdrücklich nur die Aufschiebung der Durchführung der Zeugenvernehmung bis zur Hauptsacheentscheidung und nicht die endgültige Feststellung der Grundrechtswidrigkeit der Anordnung des Landgerichts begehrt.

4. Form und Frist

Die einstweilige Anordnung ist, anders als die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache, nicht fristgebunden. Der Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung bedarf nach § 23 I BVerfGG der Schriftform.

5. Rechtsschutzbedürfnis

Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers für den Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG fehlt, wenn ein einfacherer Weg der Rechtsdurchsetzung eröffnet ist oder das Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache zumutbar ist. Dies ist nicht der Fall. Die Durchführung der Zeugenvernehmung der A in der Hauptverhandlung könnte irreversible psychische Schäden hervorrufen. Ginge das Landgericht nach seiner Anordnung vor, träte eine schwere und unumkehrbare Rechtsgutsverletzung der A ein. Sie kann die Hauptsacheentscheidung nicht ohne erheblichen Nachteil abwarten.

Zwischenergebnis: Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG ist zulässig.

II. Begründetheit

Gemäß § 32 I BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Die Gründe, die vom Antragsteller für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, haben grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, der Hauptsacherechtsbehelf -- hier die Verfassungsbeschwerde der A -- erweist sich von vornherein als insgesamt unzulässig oder offensichtlich unbegründet.

hemmer-Methode: Diesen Obersatz, den das BVerfG jeder Entscheidung gem. § 32 BVerfGG voranstellt, sollten Sie sich einprägen. Er strukturiert die Prüfung der einstweiligen Anordnung mit den drei Prüfungsschritten summarische Prüfung des Hauptsacherechtsbehelfs (entspricht Anordnungsanspruch), dringende Gebotenheit zur Abwehr schwerer Nachteile (entspricht Anordnungsgrund) und Folgenabwägung, sog. „Doppelhypothese", ohne Beachtung der möglichen Verfassungswidrigkeit der Maßnahme.

1. Hauptsacherechtsbehelf zulässig und nicht offensichtlich unbegründet -- Anordnungsanspruch

Die Verfassungsbeschwerde der A müsste zulässig und dürfte nicht offensichtlich unbegründet sein. Dabei findet eine summarische Prüfung statt. Der Anspruch muss glaubhaft gemacht werden (vgl. § 294 ZPO).

Der Hauptsacherechtsbehelf wäre zulässig. Insbesondere wäre A für die Verfassungsbeschwerde antragsbefugt i.S.d. § 90 I BVerfGG. Es besteht aufgrund ihrer substantiierten Darlegungen die Möglichkeit, dass sie selbst, gegenwärtig und unmittelbar in den Grundrechten der Art. 2 II S. 1, 3 I GG verletzt ist. Zudem ist der Rechtsweg in der Hauptsache i.S.d. § 90 II S. 1 BVerfGG erschöpft. Nach h.M. erfasst § 247a I S. 2 StPO auch die Ablehnung der Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung.

hemmer-Methode: Das BVerfG erwägt die verfassungskonforme Auslegung des § 247a StPO dahin, dass § 247a I S. 2 StPO nicht für die Ablehnung der Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung gelten soll, entscheidet diese Frage im Eilverfahren aber nicht. Diese Sachbehandlung durch das Gericht offenbart eine weitere Besonderheit des verfassungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes. Während die summarische Prüfung sonst im vorläufigen Rechtsschutz eine verminderte Tatsachenprüfung, aber eine umfängliche rechtliche Prüfung impliziert, nimmt das BVerfG auch letztere bei § 32 BVerfGG zurück.

Die Verfassungsbeschwerde der A ist nicht offensichtlich unbegründet. Für die Begründetheit müsste eine tatsächliche Grundrechtsverletzung vorliegen. Hier kann zunächst nicht ausgeschlossen werden, dass das Recht der A auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 II S. 1 GG verletzt ist. Dabei erfasst der Schutzbereich des Grundrechts grundsätzlich die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne. Das bloße Wohlbefinden schützt Art. 2 II S. 1 GG nicht. Psychische Beeinträchtigungen fallen demnach nur dann in den Schutzbereich, wenn sie körperlichen Schmerzen vergleichbare Wirkungen zeitigen. Dies ist angesichts des ärztlich attestierten Umfangs der drohenden psychischen Beeinträchtigung der A durch Konfrontation mit dem Angeklagten tatsächlich zu befürchten, sodass der Schutzbereich des Art. 2 II S. 1 GG eröffnet ist.

Auch ein ungerechtfertigter Eingriff in das Grundrecht ist nicht von vornherein ausgeschlossen. Das Landgericht hat bei der Anordnung einer audiovisuellen Vernehmung nach § 247a I StPO eine Ermessensentscheidung zu treffen. Im Rahmen dieses Rechtsfolgenermessens ist das Gericht gehalten, die widerstreitenden Interessen des Zeugen einerseits und der Effektivität der Strafrechtspflege andererseits gegeneinander abzuwägen und in einen Ausgleich zu bringen. Vorliegend fehlt ihm schon die tatsächliche Grundlage, um die Interessen der A ausreichend zu gewichten. Nach den Äußerungen der Ärztin und der Sozialarbeiterin lagen konkrete Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung bei A vor. Vor diesem Hintergrund hätte sich das Landgericht nicht darauf beschränken dürfen, auf seiner Meinung, dass die Gefahr der seelischen Destabilisierung der A nicht eindeutig festgestellt sei, zu beharren. Vielmehr hätte es i.R.d. Amtsermittlung darauf hinwirken müssen, bestehende Zweifel hinsichtlich Umfang der drohenden Verletzung und Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts auszuräumen, etwa durch ergänzende Befragung der Ärztin oder nötigenfalls Einholung eines Sachverständigengutachtens. Ohne diese weiteren Ermittlungen fehlte dem Gericht jedenfalls die notwendige Tatsachengrundlage für eine zutreffende Gewichtung der durch Art. 2 II S. 1 GG grundrechtlich verbürgten Position der A, sodass eine Verletzung des Grundrechts durchaus in Frage kommt.

Ebenso ist ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz gem. Art. 3 I GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot vorliegend nicht offensichtlich ausgeschlossen. Sollte sich die unzureichende Sachmittelausstattung des Gerichts ermessenslenkend ausgewirkt haben, läge hierin eine sachfremde Erwägung, die unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre. Da die Tatsache des Technikdefekts bereits im Verfahren angesprochen würde, liegt es zumindest nicht fern, dass sie auch auf die Ermessensentscheidung Einfluss hatte. Auf ein schuldhaftes Handeln des Gerichts kommt es insoweit nicht an. Aufgrund dieser Erwägungen sind die Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde der A jedenfalls offen. Der Hauptsacherechtsbehelf ist somit auch nicht offensichtlich unbegründet.

2. Dringende Gebotenheit zur Abwehr schwerer Nachteile -- Anordnungsgrund

Der A entstünde durch die Vernehmung in der Hauptverhandlung unter Konfrontation mit Angeklagten ein schwerer Nachteil in Form einer Beeinträchtigung ihrer Gesundheit. Die Anordnung ist dabei dringend geboten, weil die ohne sie wahrscheinlich eintretenden Missstände irreparabel sind.

3. Folgenabwägung -- Doppelhypothese

Sodann ist eine Abwägung durchzuführen, welche die nachteiligen Folgen im Fall des Erlasses der Anordnung bei Unterliegen in der Hauptsache denen des Nichterlasses bei Erfolg in der Hauptsache gegenüberstellt.

Erginge vorliegend keine einstweilige Anordnung und hätte A in der Hauptsache Erfolg, drohten ihr erhebliche Nachteile in Form der nachhaltigen psychischen Destabilisierung und womöglich einer Retraumatisierung, die einen andauernden pathologischen Zustand hervorrufen würde. Die Realisierung dieser Gefahr ist nach den ärztlichen Aussagen wahrscheinlich und die Gesundheitsverletzung durch die Aussage in der Hauptverhandlung könnte nicht durch die spätere Feststellung der Verfassungswidrigkeit rückgängig gemacht werden. Diese Nachteile überwiegen diejenigen, die entstünden, wenn dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stattgegeben würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg versagt wäre. Es könnte allenfalls zu einer Verzögerung des Verfahrens kommen, welche das öffentliche Strafverfolgungsinteresse nicht nachhaltig berührt. Denn jedenfalls hätte das Landgericht die Möglichkeit, doch die audiovisuelle Vernehmung der A durchzuführen. Relevante Verzögerungen hinsichtlich der weiteren Parallelverfahren gegen den Angeklagten könnten durch eine Abtrennung vermieden werden. Damit überwiegen die Nachteile der Ablehnung der einstweiligen Anordnung, falls A danach in der Hauptsache obsiegt. Auch die Anwendung der sog. Doppelhypothese legt es nahe, dem Antrag zu entsprechen.

III. Ergebnis

Der Antrag der A gem. § 32 BVerfGG ist zulässig und begründet. Er hat somit Aussicht auf Erfolg. Das BVerfG wird die audiovisuelle Zeugenvernehmung i.S.d. § 247a I StPO bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde der A in der Hauptsache einstweilig untersagen.