Keine horizontale unmittelbare Wirkung von Richtlinien

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Öffentliches Recht

von Life and Law am 01.06.2014

+++ Richtlinien +++ Unmittelbare Anwendbarkeit +++ Horizontale Wirkung +++

Sachverhalt: Durch die Richtlinie 85/374/EWG erfolgte eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften im Bereich der Produkthaftung. Die Richtlinie wurde durch das Produkthaftungsgesetz ordnungsgemäß in deutsches Recht umgesetzt. Seither gibt es eine Gefährdungshaftung der Hersteller für Produktfehler (§ 1 ProdHaftG).

Frage: Angenommen, diese Umsetzung wäre nicht erfolgt und einem Verbraucher A wäre infolge eines Produktfehlers ein Schaden entstanden. Könnte A sich für einen verschuldens-unabhängigen Anspruch gegen die Hersteller-GmbH unmittelbar auf die Richtlinie berufen?

A) Einordnung

Der Privatmann A kann sich grundsätzlich nicht gegenüber dem Privaten B auf die Rechte aus einer Richtlinie berufen, denn es gibt grundsätzlich keine sogenannte horizontale Direktwirkung. Grund dafür ist, dass der Private B „unschuldig" im Hinblick auf eine fehlerhafte Umsetzung oder einen Richtlinien-Verstoß ist und zudem die Rechtssicherheit gefährdet wäre.1 Möglichkeiten eines Regresses gegenüber dem Staat, dem die Nichtumsetzung zur Last zu legen ist, bestehen i.R.d. Staatshaftung.

B) Gliederung

Gibt es eine horizontale Direktwir­kung einer Richtlinie zwischen Priva­ten?

1. Pro

Effet utile, Art. 4 III EUV, Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts.

Nur so kann der Begünstigte in den Genuss der ihm zugedachten Rechte kommen.

Wettbewerbsgleichheit im Unionsrechtsraum und Rechtsangleichung in den Mitgliedstaaten.

2. Contra

Wortlaut des Art. 288 III AEUV: Richtlinien richten sich nur an Mitgliedstaaten, nicht an Private.

Die in Art. 288 AEUV festgelegten Unter-schiede zwischen den einzelnen Rechtsakten würden verwischt.

Einer horizontalen Wirkung stehen der Vertrauensschutz in die Rechtsordnung und die Rechtssicherheit entgegen.

Auch derjenige, der sich nicht gegenüber einem Privaten auf Bestimmungen aus der Richtlinie berufen kann, kann beim Staat Regress nehmen.

3. Ergebnis

Grundsätzlich keine horizontale Direktwirkung, sobald ein Privater belastet wird.

C) Lösung

Fraglich ist, ob sich der Private A gegenüber dem Hersteller, als GmbH eine juristische Person des Privatrechts, vgl. § 13 I GmbHG, auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen kann. Die Umsetzungsfrist der Richtlinie ist erfolglos abgelaufen, die fragliche Bestimmung der Richtlinie normiert einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch und hat somit einen hinreichend genauen und unbedingten Inhalt.

Grundsätzlich ist die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie gegeben.

Ob es aber eine Direktwirkung von Richtlinienbestimmungen auch zwischen Privaten gibt, ist umstritten.

1. Argumente für eine horizontale Direktwirkung

Für die Zulässigkeit einer horizontalen Direktwirkung2 spricht der Grundsatz der Effektivität, vgl. Art. 4 III EUV, und die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gewährleistung der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts.

Zudem kann der Einzelne, zu dessen Gunsten die Richtlinienbestimmung eigentlich umzusetzen wäre, nur über die unmittelbare Anwendbarkeit in den Genuss der ihm eigentlich zugedachten Rechte kommen.

Auch die Ziele der Wettbewerbsgleichheit im Unionsrechtsraum und der Rechtsangleichung in den Mitgliedstaaten würden eine unmittelbare Wirkung auch im horizontalen Verhältnis gebieten.

2. Argumente gegen eine horizontale Direktwirkung

Der EuGH und die (noch) herrschende Meinung lehnen die Anwendbarkeit von Richtlinien in der Rechtsbeziehung zwischen Privaten grundsätzlich ab.3

Zum einen entfalten Richtlinien, wie sich aus Art. 288 III AEUV ergibt, keine Verpflichtungen für Private, sodass diese auch nicht für einen Verstoß gegen Inhalte einer Richtlinie geradestehen müssen.

Auch Gründe der Rechtssicherheit für den Privaten sprechen gegen eine horizontale Direktwirkung.

Ein Privater wird oftmals nicht wissen, dass er gegen Inhalte einer Richtlinie verstößt.

Er orientiert sich am nationalen Recht und darf darauf vertrauen, dass dessen Bestimmungen ordnungsgemäßen Inhalts sind. Die Rechtssicherheit gebietet, dass der einzelne Bürger sich ohne Angst vor möglichen Schadensersatzansprüchen auf die Normen des nationalen Rechts verlassen können muss. Sein Vertrauensschutz geht einem Haftungsanspruch vor.

Insbesondere kann derjenige Private, der sich zu seinem Nachteil nicht auf die Bestimmungen der Richtlinie berufen kann, seinen durch die Nichtumsetzung entstandenen Nachteil i.R.e. Staatshaftungsanspruches gegen den Mitgliedstaat ausgleichen.

Nach st. Rspr. des EuGH findet die unmittelbare Wirkung von Richtlinien noch dort ihre Grenze, wo im konkreten Fall ein Privater belastet würde.4

3. Ergebnis

Die überzeugenderen Argumente sprechen für eine Ablehnung der horizontalen Direktwirkung. A kann keine Schadensersatzansprüche gegenüber der Hersteller-GmbH geltend machen. Diese trägt nicht die Verantwortung für die Nichtumsetzung und darf zudem auf die Normen des nationalen Rechts vertrauen.

A ist vielmehr zu raten, bei der Person, die seine Rechtlosstellung zu verantworten hat, nämlich dem Staat, Regress für seine Schäden in Form der Staatshaftung zu nehmen.

hemmer-Methode: Natürlich können Sie sich auch für die Gegenansicht entscheiden.

Auch der EuGH ist mittlerweile in einzelnen besonders gelagerten Fällen dazu übergegangen, eine horizontale Direktwirkung von Richtlinien im Verhältnis zwischen Privaten anzuerkennen.5

Solange sich hierzu aber keine gefestigte Rechtsprechung herausgebildet hat, empfiehlt es sich, der grundlegenden Ansicht des EuGH zu folgen und eine horizontale Direktwirkung von Richtlinien im Privatrechtsverhältnis mit oben genannten Argumenten abzulehnen. Behalten Sie die weitere Entwicklung im Auge.

D) Zusammenfassung

  • Noch ist aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, sowie des Wortlautes von Art. 288 III AEUV (Richtlinien sind an Staaten gerichtet und nicht an Bürger) eine horizontale Direktwirkung von Richtlinien abzulehnen.
  • Wenn Sie mit diesen (einfachen) Grundsätzen argumentieren, sind Sie auf der sicheren Seite.

E) Zur Vertiefung

Hemmer/Wüst, Europarecht, Rn. 93 f.

Hemmer/Wüst, Classics Europarecht, Fall 5


  1. EuGH, Rs. C-201/02 („Delena Wells"), Slg. 2004 I-723.

  2. Vgl. hierzu auch Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, 2003, S. 64 ff. (77 f.); Weyer, Unanwendbarkeit unionsrechtswidriger nationaler Normen im Privatrechtsverhältnis, GPR 5/03-04, S. 226 ff.

  3. EuGH („Marshall I"), Slg. 1986, S. 723 (749); Rs. C-106/89 („Marleasing"), Slg. 1990, I-4135, (4158); Rs. C-91/92 („Paola Faccini Dori/Recreb Srl"), Slg. 1994, I-3325; Rs. C-397/01 („Pfeiffer/Deutsches Rotes Kreuz"), NJW 2004, 3547 ff. Jarass, NJW 1991, 2665 (2666 f.); Scherzberg, JURA 1993, 225 (228).

  4. EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 („Marshall"); NJW 2004, 3547

  5. U.a. EuGH, Rs. C-443/98 („Unilever Italia Spa/ Central Food Spa") mit Anm. Streinz, JuS 2001, S. 809; EuGH Rs. C-201/02 („Wells/Secretary of State"), DVBl. 2004, 1287 mit Anm. Kerkmann, S. 1288 ff.