Blutige Würstchen

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Strafrecht

von Life and Law am 01.12.2013

+++ Versuchter Totschlag, §§ 212 I, 22, 23 I StGB +++ Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I StGB +++ Rücktritt, § 24 I StGB +++ Korrigierter Rücktrittshorizont +++

Sachverhalt: Franz (F) traf vor einem Würstchenstand seinen Erzfeind Sebastian (S). Dieser zog nach einem Wortgefecht verärgert sein Butterflymesser und stach F mit großer Wucht in die linke Brusthälfte. Dabei hatte er von vornherein vorgehabt, nur einmal zuzustechen, und wandte sich, nachdem er das Messer herausgezogen hatte, wieder seinem Imbiss zu. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zunächst nicht damit gerechnet, F tödlich verwundet zu haben, musste aber nach ein paar Minuten erkennen, dass der inzwischen am Boden liegende F stark blutete und kaum mehr ansprechbar war. S zog es daher vor, das Weite zu suchen, und war, als der vom Würstchenverkäufer alarmierte Notarzt kam, bereits vom Tatort verschwunden. Wie durch ein Wunder konnte F allerdings durch eine sofort eingeleitete Notoperation gerettet werden, sodass sein Zustand bereits nach einigen Tagen wieder stabil war.

Fallfrage: Prüfen Sie die Strafbarkeit des S nach dem StGB. Auf § 221 StGB ist nicht einzugehen.

A) Sound

Innerhalb eines Tatgeschehens kann die Einschätzung des Täters, ob ein beendeter oder unbeendeter Versuch vorliegt, sich ändern. Entscheidend für die Prüfung eines möglichen Rücktritts gemäß § 24 I StGB ist dann das letzte Vorstellungsbild des Täters.

B) Problemaufriss

Im Bereich des § 24 StGB stellt sich in diesem Fall bei der Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch das Problem, dass S direkt nach seinem wuchtigen Messerstich in die Brust des F diesen noch nicht für lebensgefährlich verletzt hielt. In unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang hat er aber dann seine Vorstellung geändert, als er sah, dass F stark blutete und kaum mehr ansprechbar war. Als Schlagwort muss hier in der Klausur der Begriff des korrigierten Rücktritthorizontes auftauchen und dessen Behandlung diskutiert werden.

C) Lösung

Zu prüfen ist die Strafbarkeit des S nach dem StGB.

Strafbarkeit des S

S könnte sich wegen versuchten Totschlags gemäß §§ 212 I, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Versuchter Totschlag, §§ 212 I, 22, 23 I StGB

S könnte sich, indem er mit dem Messer auf F einstach, eines versuchten Totschlags schuldig gemacht haben.

1. Vorprüfung

F hat die gegen ihn gerichtete Tat überlebt. Der tatbestandliche Erfolg ist mithin nicht eingetreten. Die Tat des S ist unvollendet. Der Versuch des Totschlags gem. § 212 I StGB ist nach §§ 12 I, 23 I StGB strafbar.

2. Tatentschluss

S müsste Vorsatz bezüglich aller Merkmale des objektiven Tatbestandes gehabt haben. Nach dem Sachverhalt hat S dem F mit großer Wucht in die linke Brusthälfte gestochen. Bei einem solch lebensgefährlichen Vorgehen kann ein Tötungsvorsatz, selbst wenn man diesbezüglich im Einklang mit der Rechtsprechung von einer besonders hohen Hemmschwelle ausgeht, nicht in Zweifel gezogen werden.

Zu prüfen ist, ob auch ein Tatentschluss zur Begehung eines Mordes bejaht werden kann.

hemmer-Methode: Unterscheiden Sie bei der Prüfung eines versuchten Mordes im Tatentschluss genau zwischen den tat- und täterbezogenen Mordmerkmalen. Auf die objektiven tatbezogenen Merkmale des § 211 II Gruppe 2 StGB muss sich der Vorsatz beziehen, die täterbezogenen Motive des § 211 II Gruppen 1 und 3 StGB müssen dagegen beim Täter vorliegen. Falsch wäre daher die Formulierung: „Der Vorsatz des Täters bezog sich auch auf die niedrigen Beweggründe."

Hier ist aufgrund des vorangegangenen Wortgefechts zwischen S und F bereits die Arglosigkeit des F zu verneinen.

Als täterbezogenes Mordmerkmal bleibt schließlich eine Tötung aus sonstigen niedrigen Beweggründen zu prüfen. Das Mordmerkmal des § 211 II Gruppe 1 Var. 4 StGB ist dann gegeben, wenn die Motive für die Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen, wobei es auf eine Gesamtwürdigung des Täterverhaltens und der Tat ankommt.1 Der Sachverhalt enthält diesbezüglich zu wenige Angaben. In Anbetracht der Tatsache, dass § 211 II StGB wegen des hohen Strafrahmens des Mordes (lebenslange Freiheitsstrafe) aus Verhältnismäßigkeitsgründen restriktiv auszulegen ist, muss hier ein Fall des § 211 II Gruppe 1 Var. 4 StGB verneint werden.

Der Tatentschluss des S war nach alledem „nur" auf einen Totschlag (§ 212 I StGB) gerichtet.

3. Unmittelbares Ansetzen

Mit dem Zustechen hat S bereits tatbestandlich i.S.d. § 212 I StGB gehandelt, sodass das unmittelbare Ansetzen nach § 22 StGB zu bejahen ist.

4. Rechtswidrigkeit und Schuld

Rechtswidrigkeit und Schuld liegen ebenfalls vor.

5. Rücktritt, § 24 StGB

S könnte nach § 24 I StGB mit strafbefreiender Wirkung vom Totschlagsversuch zurückgetreten sein.

a) Kein fehlgeschlagener Versuch

Ein Rücktritt wäre im Falle eines fehlgeschlagenen Versuchs ausgeschlossen. Fehlgeschlagen ist der Versuch, wenn der Täter erkennt, dass er das angestrebte Ziel mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr ohne räumlich-zeitliche Zäsur erreichen kann. Dies ist hier nicht der Fall. S hätte hier ein weiteres Mal mit seinem Messer in den Körper des bereits am Boden liegenden, stark blutenden und kaum mehr ansprechbaren F einstechen und so dessen Tod als tatbestandlichen Erfolg und angestrebtes Ziel noch herbeiführen können.

hemmer-Methode: Ein vertieftes Eingehen auf die Einzelaktstheorie und die Gesamtbetrachtungslehre konnte an dieser Stelle unterbleiben. Bedenken Sie allerdings, dass es keine schematische Lösung für alle Klausuren gibt.

b) Beendeter oder unbeendeter Versuch

Zu prüfen ist daher, ob ein i.S.d. § 24 I StGB beendeter oder unbeendeter Versuch vorlag. Entscheidend für diese Abgrenzung ist, ob der Täter aus seiner Sicht alles Erforderliche für den Erfolgseintritt getan hat („beendet") oder nicht („unbeendet").

Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Erscheinungsformen des Versuchs wurde früher nach der subjektiven Sicht des Täters im Zeitpunkt des Tatbeginns (sog. Tatplantheorie) vorgenommen, was allerdings zur Privilegierung von Tätern mit höherer krimineller Energie und somit zu Wertungswidersprüchen führte.

Mittlerweile stellen daher die h.M. im Schrifttum und auch die Rechtsprechung auf die Vorstellung des Täters bei Abschluss der letzten Ausführungshandlung ab (sog. Lehre vom Rücktrittshorizont).

S hat hier nach der Auseinandersetzung den Tatort verlassen, ohne aktive Gegenmaßnahmen zur Rettung des F einzuleiten. Vielmehr war es der Würstchenverkäufer, der den Notarzt alarmierte und so letztlich zur Rettung des F beitrug. Ein Rücktritt des S kann unter diesen Umständen nur in Betracht kommen, wenn aus seiner Sicht ein unbeendeter Versuch vorgelegen hätte, denn allein in diesem Fall hätte sein bloßes Untätigbleiben genügen können (vgl. § 24 I S. 1 Var. 1 StGB).

In ähnlichen Sachverhaltskonstellationen hat der BGH bereits entschieden, dass ein Täter, der nach der letzten Ausführungshandlung den Erfolgseintritt zunächst für möglich hält, unmittelbar darauf aber erkennt, dass er sich geirrt hat, durch bloße Abstandnahme von weiteren möglichen Ausführungshandlungen mit strafbefreiender Wirkung vom Versuch zurücktreten kann.2 Der Versuch sei in einem solchen Fall im Ergebnis unbeendet. Damit erlangt die an der wahrgenommenen Wirklichkeit korrigierte Vorstellung des Täters für den Rücktrittshorizont maßgebliche Bedeutung.

Dies hat umgekehrt auch dann zu gelten, wenn der Täter bei unverändert fortbestehender Handlungsmöglichkeit mit einem tödlichen Ausgang zunächst nicht rechnet, unmittelbar darauf jedoch erkennt, dass er sich insoweit geirrt hat. Dieser Versuch ist im Ergebnis als beendet anzusehen.3 So liegt der Fall hier: Spätestens als F stark blutend und kaum mehr ansprechbar am Boden lag, musste S mit einem tödlichen Ausgang rechnen. Zu diesem Zeitpunkt, der infolge des engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhangs noch zu der vorausgegangenen Ausführungshandlung zu rechnen ist, war der Versuch beendet, und es bedurfte hier gem. § 24 I S. 1 Var. 2 StGB des freiwilligen und ernsthaften Bemühens, die Tatvollendung zu verhindern, um Straffreiheit zu erlangen. Eine solche Rettungsaktivität hat S aber gerade nicht entfaltet.

hemmer-Methode: Beachten Sie, dass der korrigierte Rücktrittshorizont in beide Richtungen wirken kann. Ein zunächst beendeter Versuch kann innerhalb eines engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhanges wieder zum unbeendeten Versuch werden und umgekehrt.

Ein strafbefreiender Rücktritt des S liegt damit nicht vor.

6. Zwischenergebnis

S ist nach §§ 212 I, 22, 23 I StGB wegen versuchten Totschlags zu bestrafen.

II. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB

1. Objektiver Tatbestand

Der objektive Tatbestand der einfachen und der gefährlichen Körperverletzung ist gegeben. Durch den Stich mit dem Messer mit großer Wucht in die linke Brusthälfte des F hat S den F körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt. Ferner ist hier eine akute Lebensgefahr für F zu bejahen. Damit sind neben § 223 I StGB als Grunddelikt auch die Qualifikationen des § 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB verwirklicht.

2. Subjektiver Tatbestand

Nach der sog. Einheitstheorie schließt der Tötungsvorsatz stets auch den Körperverletzungsvorsatz mit ein.4 S hat damit auch hinsichtlich der Körperverletzung vorsätzlich gehandelt. Sein Vorsatz umfasste die Qualifikationen des § 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB.

3. Rechtswidrigkeit und Schuld

Rechtswidrigkeit und Schuld sind gegeben.

4. Zwischenergebnis

S hat sich auch gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB strafbar gemacht.

hemmer-Methode: Liegt ein vorsätzlicher Tötungsversuch durch aktives Tun vor, so ist es regelmäßig verfehlt, gebetsmühlenartig auch noch eine Strafbarkeit nach den §§ 212 I, 13 StGB und § 323c StGB zu untersuchen. Man kann dem Mörder nicht auch noch vorwerfen, sein Opfer nicht gerettet zu haben. Der versuchte Mord wäre dann doch sinnlos gewesen!

Die Tatsache, dass der Täter untätig geblieben ist bzw. sich entfernt hat, spielt strafrechtlich nur dann eine Rolle, wenn die Verletzung zuvor nur auf Fahrlässigkeit zurückzuführen war oder der Täter nach einer Körperverletzung erstmalig den Entschluss fasst, das Opfer durch Nichteingreifen umkommen zu lassen. Dann muss an die §§ 212 I, 13 StGB und an § 323c StGB gedacht werden.

III. Konkurrenzen

Fraglich ist, in welchem Konkurrenzverhältnis der versuchte Totschlag und die vollendete gefährliche Körperverletzung stehen. Während die Rspr. früher auf dem Standpunkt stand, eine vollendete Körperverletzung werde im Wege der Gesetzeskonkurrenz (Subsidiarität) verdrängt, vertrat der überwiegende Teil im Schrifttum die Ansicht, dass aus Klarstellungsgründen von Idealkonkurrenz (§ 52 StGB) auszugehen sei.5

Dieser Auffassung hat sich nun auch die Rechtsprechung explizit angeschlossen.6 Gesetzeseinheit liegt nämlich nur dann vor, wenn der Unrechtsgehalt einer Handlung durch einen von mehreren, dem Wortlaut nach anwendbaren Straftatbeständen erschöpfend erfasst wird. Dem wird eine Verurteilung allein wegen versuchten Totschlags aber nicht gerecht, wenn das Opfer bei der Tat verletzt wird. Der Unrechtsgehalt einer folgenlosen (versuchten) Tötung kann sich von dem einer versuchten Tötung, die mitunter schwerste gesundheitliche Schäden nach sich zieht, maßgeblich unterscheiden. Insofern gebietet es die Klarstellungsfunktion der Tateinheit, dies auch im Schuldspruch zum Ausdruck zu bringen.

Dass die Körperverletzung ein notwendiges Durchgangsstadium zur Tötung bildet und deshalb auch subjektiv vom Tötungswillen notwendig mit umfasst wird, ändert nichts daran, dass eben nicht mit jeder versuchten Tötung das Opfer „notwendig" auch verletzt wird.

Schließlich führt die Annahme einer klarstellenden Tateinheit auch nicht zu einer Doppelverwertung zu Lasten des Täters, denn es versteht sich von selbst, dass ihm das in den Bereich tatbestandlicher Überschneidung fallende Unrecht nur einmal angelastet werden kann.

IV. Gesamtergebnis

Der Totschlagsversuch des S nach §§ 212 I, 22, 23 I StGB und die gefährliche Körperverletzung nach §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und Nr. 5 StGB stehen in Idealkonkurrenz, § 52 StGB.

D) Zusammenfassung

Die Unterscheidung zwischen dem unbeendeten und dem beendeten Versuch ist grundsätzlich nach der herrschenden Lehre vom Rücktrittshorizont nach der subjektiven Sicht des Täters bei Abschluss der letzten Ausführungshandlung vorzunehmen. Ändert allerdings der Täter in unmittelbarem zeitlichen und räumlichen Zusammenhang danach nochmals seine Vorstellung, so ist auf diese neuerlich gebildete Vorstellung abzustellen. Ein zunächst als unbeendet anzusehender Versuch kann so zu einem beendeten und ein zunächst beendet erscheinender zu einem unbeendeten werden.

Ein versuchtes Tötungsdelikt und eine vollendete Körperverletzung stehen aus Klarstellungsgründen zueinander im Verhältnis der Idealkonkurrenz gem. § 52 StGB.

E) Zur Vertiefung

  • Zum korrigierten Rücktrittshorizont Hemmer/Wüst, Strafrecht AT II, Rn. 135.
  • Zu Konkurrenzproblemen im Bereich der Tötungs- und Körperverletzungsdelikte Hemmer/Wüst, Strafrecht BT II, Rn. 110.

  1. Vgl. ausführlich Fischer, § 211 Rn. 14 ff..

  2. Vgl. BGHSt 36, 224; BGH, JR 2000, 70 jurisbyhemmer mit Anmerkung Puppe, JR 2000, 72 ff..

  3. Vgl. BGH, NStZ 1998, 614 f. = Life & Law 1999, 98

  4. Vgl. BGH, NJW 2001, 980 Krey BT 1, Rn. 229 f.; Lackner/Kühl, § 212 StGB, Rn. 8.

  5. Vgl. die Nachweise bei Lackner/Kühl, § 212 StGB, Rn. 9; Schönke/Schröder, § 212 StGB Rn. 23; Fischer, § 212 StGB, Rn. 22.

  6. Vgl. BGHSt 44, 196= Life & Law 1999, 175