Schutzpflichtverletzung beim Werkvertrag

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Zivilrecht

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Zurechnung von Fremdverschulden +++ § 278 BGB +++ Abgrenzung zu § 831 BGB +++

Sachverhalt: B beauftragt den Fensterputzer F mit der Reinigung einer Hochhausfassade. Während der Reinigungsarbeiten lässt der sonst sehr zuverlässige Lehrling L sein Reinigungsgerät fallen und trifft den am Boden stehenden B am Kopf. B erleidet eine tiefe Risswunde und eine Gehirnerschütterung.

Frage: Muss F für die Behandlungskosten aufkommen?

A) Einführung

Seit der Reform des Schuldrechts ist § 280 I BGB die zentrale Norm für Ansprüche auf Schadensersatz, wenn der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis verletzt und diese Pflichtverletzung zu vertreten hat.

Sie bildet den Grundtatbestand für alle Formen von Pflichtverletzungen in Schuldverhältnissen.

Die Norm greift unmittelbar und allein ein, wenn es um die Haftung auf Schadensersatz neben der Leistung (sog. Begleitschäden) wegen der Verletzung einer Pflicht aus dem Schuldverhältnis geht.

Besonderheiten gelten für den sog. Schadensersatz statt der Leistung, vgl. § 280 III BGB.

Dieser kann anders als der einfache Begleitschaden nur verlangt werden, wenn je nach Art der einschlägigen Pflichtverletzung außerdem einer der Tatbestände aus §§ 281 -- 283 BGB erfüllt ist.

Vorliegend geht es um den Schadenersatz neben der Leistung.

Das bedeutet, dass das Interesse an der Erfüllung der Leistungspflicht des Schuldners neben dem Schadens­ersatzverlangen besteht (im Beispiel will B weiterhin, dass seine Hochhausfassade gereinigt wird). Oft bezieht sich dieser Anspruch auf Schäden, die nicht an der geschuldeten Sache selbst aufgetreten sind. Dazu gehören typischerweise Verletzungen des Gläubigers während der Ausführungshandlung sowie Schäden an anderen Sachen des Gläubigers.

Schädigt der Schuldner den Gläubiger nicht persönlich, stellt sich die Frage inwieweit er für das Fehlverhalten Dritter einzustehen hat. Dabei ist in der Klausur nicht nur an die vertragliche Schadensersatzhaftung zu denken, sondern auch an die deliktische.

B) Gliederung

I. Anspruch des B gegen F auf Schadensersatz aus §§ 280 I, 631 I, 241 II BGB

1. Schuldverhältnis
Werkvertrag, § 631 BGB (+)

2. Pflichtverletzung des Schuldners
F selbst (-)
L (+), Verletzung der Schutzpflicht ggü. B

(P): Zurechnung an F
L ist Erfüllungsgehilfe§ 278 BGB gilt auch für Zurechnung der Pflichtverletzung, da Trennung zwischen Verschulden und Pflichtverletzung nicht möglich, einheitliche Betrachtung

3. Vertretenmüssen
Fahrlässigkeit des L (+), Zurechnung an F gem. § 278 BGB

4. Schaden
Kosten der Heilbehandlung, § 249 II S. 1 BGB

5. Ergebnis
Anspruch des B gegen F auf Schadensersatz (+)

II. Schadensersatz des B gegen F aus § 831 I BGB

(-) wegen Exkulpationsmöglichkeit nach § 831 I S. 2 BGB, da der Lehrling zuverlässig war

C) Lösung

I. Anspruch des B gegen F auf Schadensersatz aus §§ 280 I, 631 I, 241 II BGB

Dem B könnte ein Schadensersatzanspruch in Höhe seiner Arztkosten nach § 280 I BGB zustehen.

Dann müsste F eine Pflicht aus einem Schuldverhältnis verletzt haben.

Voraussetzungen des § 280 I BGB

1. Vorliegen eines gesetzlichen oder vertraglichen Schuldverhältnisses

2. Pflichtverletzung Verletzung einer Leistungs-, Nebenleistungs- oder nicht leistungsbezogenen Nebenpflicht, die sich aus dem Schuldverhältnis ergibt

3. Vertretenmüssen § 280 I S. 2 BGB; i.Ü. § 278 BGB

4. Rechtsfolge

5. Schadensersatz, §§ 249 ff. BGB
(insb. § 253 II BGB)

1. Schuldverhältnis

Es müsste ein Schuldverhältnis zwischen F und B bestehen. B beauftragte F damit, die Hausfassade zu reinigen.

Es liegt ein Schuldverhältnis in Form eines Werkvertrages im Sinne von § 631 BGB vor.

2. Pflichtverletzung des Schuldners

F müsste eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis (hier Werkvertrag) haben.

Als Pflichtverletzung kommt hier die Verletzung von Leistungs-, Nebenleistungs- oder nicht leistungsbezogenen Nebenpflichten in Betracht.

F hat die Arbeiten jedoch selbst nicht ausgeführt, sondern bediente sich seines Lehrlings L.

Möglicherweise kann ihm ein Fehlverhalten seines Lehrlings nach § 278 S. 1 BGB zugerechnet werden.

Voraussetzung für die Zurechnung gem. § 278 S. 1 BGB ist das Vorliegen einer Sonderverbindung zwischen F und B sowie die schuldhafte Pflichtverletzung durch einen Erfüllungsgehilfen.

a) Anwendbarkeit des § 278 BGB auf die Zurechnung von Pflichtverletzungen

Zunächst ist jedoch fraglich, ob § 278 BGB auf die Zurechnung von Pflichtverletzungen anwendbar ist.

Das erscheint angesichts des klaren Wortlauts, der lediglich vom „Verschulden" des Erfüllungsgehilfen spricht, zweifelhaft.

Ein Verschulden (i.S.v. Vorsatz oder Fahrlässigkeit) ist jedoch begrifflich ohne eine objektive Pflichtverletzung gar nicht denkbar, weil es ja „Wissen und Wollen" bzw. „Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit" der rechtswidrigen Pflichtverletzung bedeutet. Damit bezieht sich die Zurechnung gem. § 278 BGB auch auf die Zurechnung der relevanten Pflichtverletzung selbst.

b) L als Erfüllungsgehilfe

L müsste Erfüllungsgehilfe des F gewesen sein. Erfüllungsgehilfe ist, wer mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn in dessen Pflichtenkreis, also in Erfüllung der Verbindlichkeit aus dem Schuldverhältnis, tätig wird.

F hat hier bewusst L mit den Reinigungsarbeiten betraut. L war daher Erfüllungsgehilfe.

c) Pflichtverletzung

Pflicht aus einem Schuldverhältnis i.S.v. § 280 I BGB meint zunächst die echten Leistungspflichten, die das Erfüllungsinteresse des Gläubigers zum Ziel haben.

Erfasst sind aber auch bloße Schutzpflichten, d.h. nicht leistungsbezogene Nebenpflichten, die der Bewahrung der sonstigen Rechte und Güter des Gläubigers vor Schäden dienen, vgl. § 241 II BGB. Die verletzte Pflicht könnte hier eine Schutzpflicht i.S.v. § 241 II BGB sein.

Danach kann jeder Teil eines Schuldverhältnisses zur Rücksicht auf Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichtet sein. Der Wortlaut des § 241 II BGB suggeriert den Ausnahmecharakter, tatsächlich aber ist die Begründung vertraglicher Schutzpflichten die Regel. Gläubiger und Schuldner haben sich durch Wahrung der gebotenen Sorgfalt grundsätzlich so zu verhalten, dass Person, Eigentum und andere Rechte, Rechtsgüter oder Interessen nicht verletzt werden.

Ob eine Pflichtverletzung vorliegt, ist rein objektiv zu ermitteln: Entscheidend ist allein, ob der Schuldner hinter dem ihm obliegenden Pflichtenprogramm zurückgeblieben ist. L verstieß gegen die allgemeine Pflicht, Beeinträchtigungen der Rechte und Rechtsgüter des B zu vermeiden.

d) Zwischenergebnis

Eine Pflichtverletzung, die dem F zugerechnet werden kann, liegt also vor.

3. Vertretenmüssen

Die Schadensersatzpflicht tritt nicht ein, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat, § 280 I S. 2 BGB. Das Gesetz definiert diese Tatbestandvoraussetzung negativ („nicht zu vertreten hat").

Das Vertretenmüssen des Schuldners wird also widerlegbar vermutet. Vorliegend gelingt dem Schuldner die Exkulpation nicht. Zwar hat er selbst nicht schuldhaft gehandelt.

Er muss sich jedoch das Verschulden seines Erfüllungsgehilfen gem. § 278 BGB zurechnen lassen (Tatbestand s.o.).

Anmerkung: Beachten Sie bitte in diesem Zusammenhang zwei Aspekte: Prozess­technisch handelt es bei § 280 I S. 2 BGB um eine Beweislastumkehr. Grundsätzlich muss jeder die ihm günstigen Tatsachen beweisen. Danach müsste eigentlich derjenige, der Schadensersatz aus § 280 I BGB verlangt, das Vertretenmüssen beweisen. Da dies aber oft aufgrund mangelnder Kenntnis eine nicht überwindbare Beweisschwierigkeit darstellt und § 280 BGB damit quasi leer liefe, hat der Gesetzgeber die Beweislast für das Vertretenmüssen umgekehrt. Bringt der Schuldner keine ihn entlastenden Tatsachen hinsichtlich seines Nicht-Vertretenmüssens vor, so hat das Gericht das Vertretenmüssen anzunehmen.

4. Ersatzfähiger Schaden

Durch diese schuldhafte Pflichtverletzung ist B ein Schaden in Form der Behandlungskosten entstanden. Je nachdem, ob die Behandlung bereits durchgeführt worden ist oder nicht, ist für Art und Umfang des Schadensersatzes § 249 I BGB (im ersten Fall) oder § 249 II S. 1 BGB (im zweiten Fall) einschlägig.

5. Ergebnis

B hat gegen F einen Anspruch auf Ersatz dieses Schadens aus §§ 280 I, 631, 241 II BGB.

Anmerkung: Da es sich um eine nicht leistungsbezogene Nebenpflichtverletzung handelt (das Werk, die Reinigung selbst, ist nicht mangelhaft), dürfen Sie nicht § 634 Nr. 4 BGB mitzitieren. § 634 Nr. 4 BGB gilt nur bei durch einen Mangel verursachten Schäden, insbesondere bei Mangelfolgeschäden.

II. Schadensersatzanspruch des B gegen F aus § 831 I BGB

Ein deliktischer Ersatzanspruch aus § 831 I scheidet hingegen aus, da F sich hinsichtlich Auswahl und Überwachung des L exkulpieren kann, § 831 I S. 2 BGB.

Anmerkung: Beachten Sie, dass B einen deliktischen Anspruch aus § 823 I BGB wegen Verletzung des Köpers sowie aus § 823 II BGB i.V.m. § 229 StGB gegen den Lehrling L hat. Danach wurde in dem Fall nicht gefragt.

D) Zusammenfassung

Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, ist er dem Gläubiger zum Ersatz des hieraus entstandenen Schadens verpflichtet, es sei denn, er hat die Pflichtverletzung nicht zu vertreten.

E) Zur Vertiefung

Hemmer/Wüst, Schuldrecht AT, Rn. 188 - 193.

Hemmer/Wüst, KK Basics Zivilrecht, Karteikarte Nr. 40