Rücknahme eines VA nach über 50 Jahren? -- Alles eine Frage des Ermessens!

OVG Münster, Urteil vom 08.11.2012, 11 A 1548/11, NVwZ-RR 2013, 250

von Life and Law am 01.01.2014

+++ Voraussetzungen der Rücknahme eines Verwaltungsaktes +++ Absolute Ausschlussfrist +++ Rücknahmeermessen der Behörde +++ Nachschieben von Ermessenserwägungen +++

Sachverhalt (vereinfacht): Die A, die in den zwanziger Jahren in der Weimarer Republik geboren wurde, lebte nach dem zweiten Weltkrieg zunächst in der DDR und arbeitete dort für eine politische Informationsschrift. Im Jahr 1952 wurde sie in der DDR wegen des Verstoßes gegen Geheimhaltungspflichten zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Nach vier Jahren wurde sie aus der Haft entlassen und zog in die Bundesrepublik.

Nach dem damals geltenden Recht der Bundesrepublik Deutschland wurden der A 1956 von der zuständigen Bundesbehörde auf Grundlage des Häftlingshilfegesetzes (HHG) Hilfeleistungen in Höhe von 2.340,- DM gewährt.

Im Jahre 2008 schließlich erhielt die Behörde erstmals Kenntnis von Tatsachen, die beweisen, dass die A in der DDR aus Gründen in Haft gewesen war, die nach dem damaligen HHG keine Hilfeleistungen begründet hätten, weshalb der Verwaltungsakt aus dem Jahr 1956 (was zutrifft) rechtswidrig sei. Es stellt sich heraus, dass die A 1956 bei der Beantragung der Hilfeleistungen falsche Angaben gemacht hatte.

Aus diesem Grund nahm die Behörde den Bewilligungsbescheid aus dem Jahr 1956 unverzüglich zurück, ohne in der Begründung auf den langen Zeitraum zwischen Erlass und Rücknahme des Verwaltungsakts einzugehen.

Gegen diese Rücknahme erhob die A Klage zum Verwaltungsgericht. Sie ist der Meinung, nach nunmehr über 50 Jahren könne die Behörde einen Verwaltungsakt nicht mehr zurücknehmen. Insbesondere sei es ihr nach so langer Zeit nicht mehr möglich, durch das Benennen von Zeugen zu beweisen, dass die Voraussetzungen für die Bewilligung damals doch vorlagen. Schließlich seien alle Personen, die damals mit dem Sachverhalt vertraut waren, inzwischen verstorben.

In der mündlichen Verhandlung erklärt ein Vertreter der Behörde, man habe nunmehr auch den langen Zeitraum bedacht, sei aber weiterhin der Meinung, dass dies überhaupt keine Rolle spiele.

Ist die Rücknahme rechtmäßig?

A) Sounds

1. Für die Rücknahme von Verwaltungsakten besteht keine absolute Ausschlussfrist.

2. Die Behörde hat jedoch den langen Zeitraum zwischen Erlass des Verwaltungsakts und dessen Rücknahme im Ermessen zu berücksichtigen.

B) Problemaufriss

Die Aufhebung von Verwaltungsakten ist immer wieder Bestandteil von Examensklausuren, da es dem Klausurersteller hier ohne weiteres möglich ist, Fragestellungen des allgemeinen Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrechts mit solchen des besonderen Verwaltungsrechts zu kombinieren.

Die vorliegende Entscheidung wirft eine Frage auf, die bislang (mangels praktischer Relevanz) eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat. Sie lautet: Gibt es irgendeine absolute zeitliche Grenze für die Rücknahme eines Verwaltungsakts?

Hierbei geht es um die Zeit zwischen dem Erlass des Verwaltungsakts und der Rücknahme.

Zur Erinnerung: Eine relative zeitliche Grenze ist in § 48 IV VwVfG vorgesehen -- ausgehend von dem Zeitpunkt der Kenntniserlangung der Behörde an.

C) Lösung

Zu prüfen ist die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides.

Anmerkung: Beachten Sie, dass sich die vorliegende Klage nur gegen den Rücknahmebescheid richtet. Das Geld hat die Behörde noch nicht zurückgefordert. Dies müsste nach Bestandskraft des Rücknahmebescheides auf Grundlage des § 49a VwVfG ebenfalls durch Verwaltungsakt erfolgen, vgl. § 49a I S. 2 VwVfG. In der Klausur kann sich der Fall auch so darstellen, dass die Behörde mit einem Verwaltungsakt die Rückzahlung des rechtswidrig gewährten Geldes fordert. Diese Rückforderung wäre dann so auszulegen, dass hierin auch die Rücknahme des Verwaltungsakts zu sehen ist, die für sich genommen rechtmäßig sein müsste. Bei den Erfolgsaussichten der Klage müsste dann also im Rahmen der Begründetheit die Rechtmäßigkeit von zwei Verwaltungsakten (Rückforderung und -inzident- die Rücknahme des Bewilligungsbescheides) geprüft werden.

In prozessualer Hinsicht wäre hier dann darauf zu achten, dass eine Klagehäufung gem. § 44 VwGO vorliegt.

Nachdem die Rücknahme einen Eingriff in die Rechte der A darstellt, bedarf es hierzu wegen des Vorbehalts des Gesetzes einer ausreichenden Rechtsgrundlage (I). Die Aufhebung müsste zudem formell (II) und materiell (III) rechtmäßig sein.

Anmerkung: In prozessualer Hinsicht wäre die Anfechtungsklage nach § 42 I Alt. 1 VwGO die statthafte Klageart, weil die Aufhebung eines Verwaltungsaktes als actus-contrarius ebenfalls ein solcher ist. Eine Verpflichtungsklage auf Neuerteilung des Ausgangsbescheides wäre zwar ebenfalls statthaft, ihr würde aber als bloßer Leistungsklage das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da eben auch eine Anfechtungs- und damit eine Gestaltungsklage statthaft ist. Bei Erfolg der Anfechtungsklage wird der Aufhebungsbescheid nach § 113 I S. 1 VwGO vom Gericht mit ex-tunc-Wirkung beseitigt, sodass der Ausgangsbescheid weiter existiert, § 43 II VwVfG.

I. Rechtsgrundlage

Eine spezialgesetzliche Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Häftlingshilfebescheides ist nicht ersichtlich.

Daher sind die allgemeinen Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten im VwVfG heranzuziehen.

Anmerkung: Achten Sie stets auf die richtige Zitierweise der Normen. Ob das Landes-VwVfG oder das Bundes-VwVfG einschlägig ist, richtet sich danach, ob eine Landesbehörde oder eine Bundesbehörde gehandelt hat. Da hier eine Bundesbehörde gehandelt hat, ist das Bundes-VwVfG zu zitieren.

Im Rahmen der Statthaftigkeit einer Klage ist streng genommen stets das Bundes-VwVfG zu zitieren. Hier ist anhand von § 35 Bundes-VwVfG zu erörtern, ob die streitgegenständliche Maßnahme einen Verwaltungsakt darstellt. Sie befinden sich in der Prüfung der Voraussetzungen des § 42 I VwGO, also Bundesrecht. Landesrecht darf aber grundsätzlich nicht zur Definition von Bundesrecht herangezogen werden!

Differenzierung Rücknahme Widerruf

Für die Aufhebung von Verwaltungsakten bestehen mit den §§ 48 und 49 VwVfG zwei unterschiedliche Rechtsgrundlagen. Welche Rechtsgrundlage einschlägig ist, bestimmt sich danach, ob der Ausgangsverwaltungsakt rechtmäßig oder rechtswidrig war. Für die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts (sog. Rücknahme) ist § 48 VwVfG die richtige Rechtsgrundlage, während für die Aufhebung eines rechtmäßigen Verwaltungsakts (sog. Widerruf) § 49 VwVfG als Rechtsgrundlage heranzuziehen wäre.

Laut Sachverhalt war der Ursprungsverwaltungsakt rechtswidrig, weil die Behörde Häftlingshilfen gewährt hat, obwohl die Voraussetzungen hierfür nicht vorlagen.

Einschlägige Rechtsgrundlage für den Aufhebungsbescheid ist somit § 48 VwVfG.

Anmerkung: In der Klausur kann hier durchaus ein Schwerpunkt liegen. Dann wird erwartet, dass Sie inzident die Rechtmäßigkeit des Grundverwaltungsaktes ausführlich gutachterlich prüfen. Hier sind die Informationen des Sachverhaltes jedoch so spärlich, dass eine kurze Feststellung der Rechtswidrigkeit genügt.

Eine Besonderheit gilt in den Fällen des § 49 III VwVfG. Hier kann auch ein rechtmäßiger Verwaltungsakt rückwirkend widerrufen werden. Erst recht muss die rückwirkende Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes möglich sein. In diesem Fall kann die Frage, ob der Grundverwaltungsakt rechtswidrig war, ausnahmsweise offen bleiben (und ins Hilfsgutachten verlagert werden).

Streng genommen ist die Rechtswidrigkeit des Grundverwaltungsakts erst Tatbestandsvoraussetzung des § 48 VwVfG und somit Bestandteil der materiellen Rechtmäßigkeit. Es bietet sich dennoch an, diese Frage bereits im Rahmen der Rechtsgrundlage abschließend zu klären, da hiervon (wie gleich zu sehen sein wird) u.a. die Zuständigkeit der Behörde für die Aufhebung abhängt.

II. Formelle Rechtmäßigkeit

Über die Rücknahme eines Verwaltungsaktes entscheidet gem. § 48 V VwVfG die nach § 3 VwVfG für den Grundverwaltungsakt örtlich zuständige Behörde. Der gleiche Grundsatz gilt für die sachliche Zuständigkeit.

Laut Sachverhalt hat bei Erlass des Grundverwaltungsaktes die zuständige Behörde gehandelt. Diese war somit auch für die Rücknahme zuständig.

Verfahrens- oder Formfehler sind nicht ersichtlich.

Somit ist die Rücknahme formell rechtmäßig.

III. Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist jedoch, ob die Rücknahme des Häftlingshilfebescheides auch materiell rechtmäßig war.

Der Tatbestand des § 48 VwVfG fordert zunächst einen rechtswidrigen Ausgangsverwaltungsakt, der - wie bereits festgestellt - vorliegt.

1. Differenzierung belastender/begünstigender Grund-VA

Zunächst ist festzulegen, welche Tatbestandsvoraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sein müssen. Das VwVfG unterscheidet zwischen belastenden und begünstigenden Verwaltungsakten. Während ein belastender VA ohne weitere Voraussetzungen nach billigem Ermessen der Behörde zurückgenommen werden kann, ist die Rücknahme eines begünstigenden VAs nur unter den Voraussetzungen der Absätze zwei bis vier des § 48 VwVfG möglich.

Gemäß der Legaldefinition des § 48 I S. 2 VwVfG ist ein begünstigender Verwaltungsakt ein solcher, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat. Da der Bescheid vorliegend das Recht zum Bezug von Häftlingshilfen begründet hat, liegt ein begünstigender Ausgangs-VA vor.

Eine Rücknahme ist demnach nur unter den besonderen Voraussetzungen der Absätze zwei bis vier des § 48 VwVfG erlaubt.

2. Differenzierung nach Abs. 2: Gewährung einer einmaligen oder laufenden Geldleistung oder teilbaren Sachleistung?

In einem nächsten Schritt ist zu erörtern, ob der Ausgangs-VA eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder hierfür Voraussetzung ist, vgl. § 48 II S. 1 VwVfG. Für die Rücknahme eines solchen Verwaltungsakts gelten nämlich die strengen Voraussetzungen des § 48 II VwVfG.

Anmerkung: Der Vertrauensschutz ist in den Absätzen zwei und drei des § 48 VwVfG grundlegend unterschiedlich geregelt. Während in Absatz zwei bei schutzwürdigem Vertrauen eine Rücknahme unzulässig ist, kann in Absatz drei der Verwaltungsakt grundsätzlich immer zurückgenommen werden. Das schutzwürdige Vertrauen wird hier durch eine Entschädigungszahlung ausgeglichen. Während Absatz zwei Vertrauensschutz durch Bestandsschutz gewährt, erfolgt bei Absatz drei Vertrauensschutz durch Vermögensschutz. Nur wenn im Einzelfall ein Vermögensausgleich nicht möglich ist, etwa weil nur immaterielle Schäden vorliegen, kann der Vertrauensschutz zum Ausschluss der Rücknahme führen. In einem solchen Fall kann das Rücknahmeermessen nach Absatz eins Satz eins gegen die Rücknahme auf Null reduziert sein.

Da die Häftlingshilfe eine einmalige Geldleistung darstellt und der Hilfebescheid diese gewährt, handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 48 II S. 1 VwVfG.

a) Vertrauensschutz

Solche Verwaltungsakte dürfen nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist, § 48 II S. 1 VwVfG.

Gem. § 48 II S. 2 VwVfG ist das Vertrauen i.d.R. schutzwürdig, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann.

Dies dürfte hier nach über 52 Jahren grundsätzlich der Fall sein.

Jedoch hat die A den Verwaltungsakt laut Sachverhalt durch falsche Angaben bewirkt. In diesem Fall ist das Vertrauen des Adressaten in den Bestand des Verwaltungsaktes gem. § 48 II S. 3 Nr. 2 VwVfG nicht schutzwürdig.

Ein Vertrauensschutz scheidet vorliegend somit aus.

b) (relative) Frist, § 48 IV VwVfG

Die Rücknahme eines Verwaltungsaktes ist gem. § 48 IV VwVfG nur innerhalb einen Jahres ab dem Zeitpunkt, an dem die Behörde von den Tatsachen, die die Rücknahme des Verwaltungsaktes rechtfertigen, Kenntnis erlangt, zulässig. Hier hat die Behörde den Verwaltungsakt laut Sachverhalt unverzüglich zurückgenommen. Die Frist des § 48 IV VwVfG wurde somit jedenfalls gewahrt.

c) Zwischenergebnis

Somit sind die geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen des § 48 VwVfG erfüllt.

3. Problem: Absolute Ausschlussfrist als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal?

Problematisch an dem vorliegenden Fall ist aber, dass zwischen dem Erlass des Verwaltungsaktes und der Rücknahme ein Zeitraum von über 52 Jahren liegt.

Es stellt sich deshalb die Frage, ob das VwVfG eine Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach so langer Zeit überhaupt noch zulässt, oder ob nicht vielmehr eine sog. absolute Ausschlussfrist als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der §§ 48 und 49 VwVfG besteht.

Lösung des OVG Münster

Das OVG Münster verneint eine solche absolute Ausschlussfrist.

Der Gesetzgeber habe beim Erlass des insoweit wortgleichen Verwaltungsverfahrensgesetzes des Bundes die Frage einer absoluten Ausschlussfrist erwogen, aber nicht ins Gesetz aufgenommen. In der Gesetzesbegründung zu § 44 IV VwVfG heißt es:1

„Eine absolute Ausschlussfrist, für die es auf Kenntnis der Ausschließungsgründe nicht ankommt, erscheint nicht gerechtfertigt, da es durchaus Fälle geben kann, in denen ein so weitgehender Schutz des Betroffenen nicht angemessen wäre (z.B. Rücknahme einer ärztlichen Approbation, durch strafbare Handlung erlangte Vermögensvorteile). Auch das BVerwG habe in seiner Rechtsprechung dem Zeitablauf allein keine eigenständige Bedeutung beigemessen; es sei vielmehr davon ausgegangen, dass die verstrichene Zeit ein Beurteilungsfaktor neben anderen Umständen dafür sein kann, ob nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Gesamtverhältnisse eine Rücknahme noch als rechtmäßig anzusehen ist."2

Demnach besteht eine absolute Ausschlussfrist als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal gerade nicht. Insoweit steht also der lange Zeitraum zwischen Erlass des Verwaltungsaktes und der Rücknahme einer Rechtmäßigkeit letzterer nicht entgegen.

4. Aber: Ermessen

Nachdem der Tatbestand der Rechtsgrundlage erfüllt ist, müsste die Behörde auch hinsichtlich der Rechtsfolge ermessensfehlerfrei gehandelt haben. Insoweit ist die Entscheidung gem. § 40 VwVfG, § 114 S. 1 VwGO nur auf Ermessensfehler hin zu überprüfen.

Eine Ermessensüberschreitung nach § 114 S. 1 Alt. 1 VwGO liegt nicht vor, da sich die Behörde im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge bewegt.

Hier könnte aber ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs oder Ermessensdefizits als Unterfall des Fehlgebrauchs nach § 114 S. 1 Alt. 2 VwGO vorliegen, indem die Behörde den langen Zeitraum zwischen Erlass und Rücknahme des Verwaltungsaktes nicht in ihrem Ermessen berücksichtigt hat.

Lösung des OVG Münster

Hier knüpft das OVG Münster an die vorherigen Ausführungen zur absoluten Ausschlussfrist an. Nachdem eine solche grundsätzlich auf Tatbestandsebene nicht besteht, müsse der Zeitraum aber jedenfalls auf Rechtsfolgenseite im Rahmen des Ermessens berücksichtigt werden.

Der Zeitablauf sei nach der Rechtsprechung des BVerwG im Rahmen der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Die Ermessensausübung i.S. des § 40 VwVfG bestehe in einer Abwägung der nach den Zwecken der Ermächtigung maßgebenden Gesichtspunkte gegen- und untereinander. Dabei sei zum einen der maßgebliche Sachverhalt zu ermitteln. Zum zweiten seien alle für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte gegen- und untereinander abzuwägen mit dem Ziel, allen beteiligten Gesichtspunkten soweit wie möglich Rechnung zu tragen.3

Das BVerwG habe in einer Entscheidung die Auffassung vertreten, dass bereits ein „erheblicher Zeitablauf von mehr als elf Jahren" ein „wesentlicher Beurteilungsfaktor neben anderen" sei.4

Der vorliegende Rücknahmebescheid enthält zur Frage des verstrichenen Zeitraums keinerlei Ermessenserwägungen. Hier wäre aber der ungewöhnlich lange Zeitablauf von 52 Jahren zu berücksichtigen gewesen. Den ungewöhnlich langen Zeitablauf von 52 Jahren in die Ermessenserwägungen einzustellen, lag auch deshalb nahe, weil dieser Zeitraum noch weitaus länger ist als der Zeitraum von 30 Jahren, nach dessen Ablauf in weiten Teilen der Rechtsordnung spätestens eine Verjährung eintritt (z.B. § 78 StGB, § 197 BGB).

Die Behörde hätte zudem die für die A gerade auf Grund des langen Zeitablaufs problematische Beweissituation in seine Ermessenserwägungen einstellen müssen. Denn die A könne insbesondere den Inhalt der „Stasi-Unterlagen" nicht mehr etwa durch die Beibringung von Zeugen bestreiten, weil geeignete Zeugen verstorben sind.

Zwischenergebnis

Somit krankt die ursprüngliche Rücknahmeentscheidung an einem Ermessensfehler nach § 114 S. 1 Alt. 2 VwGO.

Nachschieben von Gründen?

Allerdings hat die Behörde in der mündlichen Verhandlung vor dem VG erklärt, nunmehr auch die lange Zeitdauer seit Erlass des Verwaltungsaktes berücksichtigt zu haben. Hierin könnte ein Nachschieben von Gründen zu sehen sein, durch das der bisherige Ermessensfehler behoben wurde.

§ 114 S. 2 VwGO erlaubt nur Ergänzung der Ermessenserwägungen

Hieran ist allerdings bereits problematisch, dass § 114 S. 2 VwGO nur ein Ergänzen der Ermessenserwägungen zulässt. Die setzt voraus, dass die Behörde ihr Ermessen bereits betätigt hat, was bei einem völligen Ermessensnichtgebrauch gerade nicht der Fall ist. Allerdings kann dem Sachverhalt nicht entnommen werden, ob die Behörde nur diesen einen Punkt in ihre Ermessensentscheidung nicht eingestellt hat -- dann wäre eine Ergänzung möglich -- oder ob sie grundsätzlich ihr Ermessen nicht ausgeübt hat.

Im Ergebnis kann dies dahingestellt bleiben, wenn auch die nachgeschobenen Erwägungen nicht geeignet sind, die Entscheidung ermessensfehlerfrei zu gestalten.

auch nachgeschobene Erwägung fehlerhaft

Die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zum Zeitablauf nachgeschobenen Ermessenserwägungen ändern nichts an der Rechtswidrigkeit der Rücknahmeentscheidung. Die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung lassen zum einen erkennen, dass die Behörde dem Zeitablauf unabhängig von seiner Länge keine Bedeutung beimisst. Zum anderen ist das Ermessen der Behörde mit Blick auf die oben ausgeführten Gesichtspunkte in diesem konkreten Einzelfall in der Weise „auf Null" reduziert, dass eine Rücknahme der vor 52 Jahren ausgestellten Häftlingshilfebescheinigung und der darauf beruhenden Bewilligung einer Beihilfe für die Vergangenheit ausgeschlossen sein soll und die Rücknahme der Häftlingshilfebescheinigung allenfalls für die Zukunft in Betracht kommt.

Demnach ist die Rücknahme ermessensfehlerhaft.

5. Zwischenergebnis

Die Rücknahme ist somit materiell rechtswidrig.

IV. Ergebnis

Die Rücknahme ist mithin insgesamt rechtswidrig.

D) Kommentar

(mg). Die Entscheidung der Behörde mutet etwas ungewöhnlich an. Nach gesundem Menschenverstand darf schon bezweifelt werden, ob es einer Rücknahme des Verwaltungsaktes nach über 50 Jahren wirklich bedurft hätte.

Einer strengen rechtlichen Prüfung hält die Rücknahme wegen Ermessensfehlerhaftigkeit nicht stand, weil der Gesetzgeber zwar ausdrücklich keine absolute Ausschlussfrist für die Aufhebung von Verwaltungsakten wollte, aber die Rücknahme von Verwaltungsakten nun einmal eine Ermessensentscheidung ist und hier der lange Zeitraum zu berücksichtigen war.

Der Entscheidung, dass es keine absolute Ausschlussfrist für die Rücknahme von Verwaltungsakten gibt, ist zuzustimmen, insbesondere weil im VwVfG hinreichende Sicherungsinstrumente vorgesehen sind, um unbillige Entscheidungen zu verhindern, beispielsweise die Berücksichtigung des schutzwürdigen Vertrauens, die relative Ausschlussfrist des § 48 IV VwVfG und - wie die Entscheidung zeigt - nicht zuletzt auch das vorgeschriebene Ermessen.

Das Erfordernis, dass in dem konkreten Fall im Ermessen zu berücksichtigen war, dass der Erlass des Verwaltungsakts bereits über 50 Jahre zurück liegt, verdient Zustimmung, weil mit dem langen Zeitraum vor allem Beweisschwierigkeiten einhergingen. Dies mag in einem anderen Fall, der solche Schwierigkeiten nicht birgt, anders zu bewerten sein. Deshalb ist in Prüfungen Vorsicht vor dem vermeintlich bekannten Fall geboten!

Die praktische Relevanz dieser Entscheidung dürfte sich in Grenzen halten, was aber keineswegs gegen eine weitaus größere Prüfungsrelevanz spricht.

E) Zur Vertiefung

  • Zur Aufhebung von Verwaltungsakten

Hemmer/Wüst, Verwaltungsrecht I, Rn. 452 ff.

F) Wiederholungsfragen

  1. Wieweit erlaubt § 114 S. 2 VwGO ein Nachschieben von Ermessenserwägungen?
  2. Was ist der Unterschied zwischen § 48 II VwVfG und § 48 III VwVfG?

  1. BT-Dr 7/910, S. 71.

  2. BVerwG, Beschl. v. 05.09.1972.

  3. Kopp/Ramsauer, 13. Aufl. 2012, § 40 VwVfG, Rn. 52, 62.

  4. BVerwG, Urt. v. 20.01.1976.