Kein großes Los Ordentliche Kündigung in Kleinbetrieben, Fristen des § 622 BGB, Konsequenz der Kündigung zum falschen Zeitpunkt

Grundfall (nicht nur) für Anfangssemester, Zivilrecht

von Life and Law am 01.12.2013

+++ § 622 BGB +++ §§ 133, 157, 140 BGB +++ §§ 4, 7 KSchG +++

Viktor Volz (V), 41 Jahre alt, Vater zweier noch in der Ausbildung befindlicher Kinder, arbeitet seit 23 Jahren als Gerüstbauer bei seinem Arbeitgeber Hans Hoch (H). Im Gerüstbaubetrieb des H arbeiten außer V noch drei weitere Arbeitnehmer, alle als Gerüstbauer.

Da die Lage am Baumarkt äußerst angespannt ist und auch viele Generalunternehmer nur sehr zögerlich ihren Zahlungsverpflichtungen nachkommen, gerät der Betrieb des H in eine wirtschaftliche Schieflage. H sieht sich gezwungen, die Zahl seiner Gerüstbauer zu verringern. H weiß jedoch nicht, wen er entlassen soll, da er mit seinen Arbeitnehmern gleichermaßen zufrieden ist; er bestimmt den Unglücklichen daher per Los. Dieses trifft den V; H kündigt ihm deshalb am 23. Juni formgerecht zum 31. Oktober.

V ist entsetzt. Seine Töchter wollen in den nächsten Jahren ein Studium beginnen, für sich selber sieht er aufgrund seines Alters auf dem Arbeitsmarkt keine Chance. Er erhebt daher am 1. Juli Klage gegen die Kündigung. Zum einen führt er aus, dass die Kündigung völlig willkürlich sei. Zudem sei sein Kollege Johann Jung (J) ledig, erst sehr kurz im Betrieb und auch sonst sozial weniger schutzwürdig. Zum anderen hält er die Kündigung für unwirksam, da die Kündigungsfrist für solch einen verdienten Arbeitnehmer nicht beachtet worden sei.

Frage 1: Ist die Klage des V begründet?

V erhebt erst am 26. Juli zulässig Klage gegen die Kündigung. In der mündlichen Verhandlung deutet der Richter an, dass er die Überprüfbarkeit der Wirksamkeit der Kündigung für fraglich hält. V lässt deshalb von seinem Anwalt hilfsweise für den Fall der Wirksamkeit der Kündigung beantragen festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis erst mit dem 31. Dezember endet.

Frage 2: Wie wird das Gericht entscheiden?

A) Sound

Eine ordentliche Kündigung ist -- im Gegensatz zur außerordentlichen -- grundsätzlich grundlos möglich.

Dieser Grundsatz wird indes im Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes durchbrochen.

Aber auch außerhalb des Geltungsbereichs des KSchG ist eine willkürliche Kündigung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgeschlossen.

Da der Einzelne nicht nur wirtschaftlich enorm von dem Bestand seines Arbeitsverhältnisses abhängt, kann eine willkürliche Kündigung auch hier unzulässig sein.

Auf der Basis der Rechtsprechung des BVerfG hat das BAG daher Grundsätze für die Kündigung von Arbeitnehmern in Kleinbetrieben entwickelt.

B) Gliederung

Frage 1:

1. Zugang einer schriftlichen Kündigung, §§ 623, 130, 126 BGB

2. Präklusion des AN, §§ 4, 7 KSchG (-)

3. Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung

a) Frist des § 622 II BGB

aa) Dauer der Betriebszugehörigkeit des V: 23 Jahre

bb) Trotz § 622 II S. 2 BGB: Betriebszugehörigkeit: 23 Jahre (EuGH/BAG)

cc) Frist daher gem. § 622 II S. 1 Nr. 7 BGB: sieben Monate zum Monatsende

dd) Rechtsfolgen der nicht fristgerechten Kündigung

b) KSchG wegen § 23 I S. 2 KSchG nicht anwendbar

c) Nichtigkeit wegen §§ 242, 138 BGB?

aa) Vergleich der Sozialdaten

bb) Rechtfertigung

cc) Interessenabwägung

4. Ergebnis: Kündigung nichtig, Klage erfolgreich

Frage 2:

1. Erfolgsaussichten des Hauptantrags

a) Zulässigkeit lt. Sachverhalt (+)

b) Begründetheit (-), da Präklusion gem. §§ 4, 7 KSchG

2. Erfolgsaussichten des Hilfsantrags

a) Zulässigkeit der Feststellungsklage gem. § 46 II ArbGG, §§ 495, 256 I ZPO

aa) Rechtswegzuständigkeit des Arbeitsgerichts, § 2 I Nr. 3b ArbGG (+)

bb) Bedingungsfeindlichkeit von Prozesshandlungen, hier echter Hilfsantrag (+)

cc) Zulässigkeit der eventuellen nachträglichen Klagehäufung, § 46 ArbGG, §§ 495, 263, 260 ZPO (+)

dd) Feststellungsinteresse, § 46 II ArbGG, §§ 495, 256 I ZPO (+)

b) Begründetheit des Hilfsantrags

aa) fristgerechtes Ende des Arbeitsverhältnisses: 31. Dezember, s.o.

bb) Aber: Präklusion gem. §§ 4, 7, 23 I S. 2 KSchG? (-); str.

3. Ergebnis: Hauptantrag unbegründet, Hilfsantrag begründet (str.)

C) Lösung

Frage 1

Die Kündigungsschutzklage des V ist begründet, wenn die Kündigung vom 23. Juni unwirksam ist. Dies ist der Fall, wenn die Kündigung nicht formgerecht zugegangen ist oder aus anderen Gründen unzulässig ist.

1. Zugang einer schriftlichen Kündigung

Die Kündigung vom 23. Juni war laut Sachverhalt formgerecht, also schriftlich i.S.d. §§ 623, 126 BGB; die Kündigung ist dem V auch gem. § 130 BGB zugegangen.

2. Präklusion des Arbeitnehmers

Damit die Kündigung auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden kann, dürfte die Frist des § 4 S. 1 KSchG noch nicht abgelaufen sein, § 7 KSchG.

Die Betriebsgröße ist für diese Präklusionswirkung unerheblich, § 23 I S. 2 u. 3 KSchG.

Die Kündigung ging V am 23. Juni zu. Gem. § 187 I BGB beginnt die Drei-Wochen-Frist des § 4 S. 1 KSchG am 24. Juni, 0.00 Uhr. Sie endet mit Ablauf des 14. Juli. Die Klageerhebung am 1. Juli ist damit fristwahrend.

3. Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung

Fraglich ist nun, ob die Kündigung des V einer inhaltlichen Überprüfung standhält.

a) Einhaltung der Kündigungsfrist, § 622 I, II BGB

Zunächst ist zu prüfen, ob H bei seiner Kündigung die einschlägige Kündigungsfrist beachtet hat. Die Frist bestimmt sich gem. § 622 I, II BGB nach der Betriebszugehörigkeit.

aa) Laut Sachverhalt ist V seit 23 Jahren bei H beschäftigt. Gem. § 622 II S. 1 Nr. 7 BGB betrüge die Kündigungsfrist damit sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats.

bb) Zu beachten ist allerdings § 622 II S. 2 BGB. Danach sind nämlich bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer Beschäftigungszeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahrs des Arbeitnehmers liegen, nicht zu berücksichtigen.

Im Ergebnis bedeutet das: Die erste Verlängerung der Kündigungsfrist kann für einen Arbeitnehmer frühestens mit Vollendung des 27. Lebensjahres eintreten.

Fraglich ist, ob es sich bei § 622 II S. 2 BGB nicht evtl. um eine unzulässige Altersdiskriminierung handelt.

§ 622 II S. 2 BGB könnte allerdings gegen höherrangiges Recht verstoßen. In Betracht kommt ein Verstoß gegen das in Art. 19 AEUV bzw. in der Richtlinie RL 2000/78/EG geregelte Verbot der Altersdiskriminierung.

hemmer-Methode: § 622 II S. 2 BGB kann sicher nicht gegen das Verbot der Altersdiskriminierung in §§ 1, 7, 10 AGG verstoßen. Das AGG ist nämlich im Verhältnis zum BGB kein höherrangiges Recht.

Das Verbot der Altersdiskriminierung ist als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anzusehen. Dies folgt aus Art. 19 AEUV, wonach Diskriminierungen aus Gründen des Alters zu bekämpfen sind. Die Richtlinie 2000/78/EG konkretisiert diesen Grundsatz und verbietet in Art. 1, 2 die Diskriminierung wegen des Alters.

§ 622 II S. 2 BGB sieht eine weniger günstige Behandlung für Arbeitnehmer vor, die ihre Beschäftigung bei dem Arbeitgeber vor Vollendung des 25. Lebensjahres aufgenommen haben. Dadurch werden generell junge Arbeitnehmer gegenüber älteren benachteiligt, da sie trotz gleicher Betriebszugehörigkeit von der stufenweisen Verlängerung der Kündigungsfristen ausgeschlossen sind.

Nach Art. 6 der Richtlinie RL 2000/78/EG können die Mitgliedstaaten allerdings vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Nach Ansicht des EuGH ist diese Ungleichbehandlung durch § 622 II S. 2 BGB aber nicht durch ein rechtmäßiges Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik oder Arbeitsmarkt gerechtfertigt.

Es ist nach Ansicht des EuGH zwar ein grundsätzliches arbeitsmarktpolitisches Anliegen, wenn jüngeren Arbeitnehmern eine höhere Flexibilität zugemutet wird, auf den Verlust ihres Arbeitsplatzes zu reagieren. Außerdem erleichtern kürzere Kündigungsfristen für jüngere Arbeitnehmer deren Einstellung und verschaffen dem Arbeitgeber eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität.

§ 622 II S. 2 BGB stellt nach Ansicht des EuGH aber keine angemessene Maßnahme dar, weil sie für alle Arbeitnehmer, die vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den Betrieb eingetreten sind, unabhängig davon gilt, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind (EuGH, Life&Law 4/2010, 240 [245] = NZA 2010, 85 ff.).

Damit werden auch die Arbeitnehmer von der Regelung erfasst, die eine lange Betriebszugehörigkeit aufweisen. Zudem führt die Vorschrift zu einer Ungleichbehandlung jüngerer Arbeitnehmer untereinander, weil die Rechtsfolgen denjenigen, der unmittelbar nach Abschluss der Ausbildung ein Beschäftigungsverhältnis beginnt, härter treffen als denjenigen, der erst kurz vor Vollendung seines 25. Lebensjahres eine Arbeit aufnimmt.

Folge der Europarechtswidrigkeit ist die Verpflichtung der nationalen Gerichte, die dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung bei ihrer Entscheidung unangewendet zu lassen. Das gilt selbst in den Fällen, in denen keine Vorabentscheidung nach Art. 267 II AEUV über die Vereinbarkeit der Norm mit dem europäischen Recht ergangen ist.

Die nationalen Gerichte sind nämlich lediglich berechtigt, aber nicht verpflichtet, bei einem Zweifel über die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem europäischen Recht den EuGH um eine Vorabentscheidung über die Auslegung des Unionsrechts zu ersuchen.

Der sog. „Anwendungsvorrang des Europarechts" gilt nach ausdrücklicher Ansicht des EuGH auch dann, wenn die nationale Norm der Auslegung nicht zugänglich ist. Da Richtlinien grds. keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber Privaten entfalten, wäre § 622 II S. 2 BGB - obwohl richtlinienwidrig - nicht unanwendbar.

Der EuGH begründet die Unanwendbarkeit jedoch in Fortführung seiner „Mangold-Entscheidung", EuGH, NZA 2005, 1345 [1347], damit, dass das Verbot der Altersdiskriminierung „ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts" sei, der nationalen Regelungen vorgeht.

Das BAG hat diese Entscheidung bestätigt. Wegen des sog. Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist § 622 II S. 2 BGB nicht anzuwenden (BAG, Life & Law 2/2011, 92 ff. = NJW 2010, 3740 ff. ).

Dieser Grundsatz verlangt von den nationalen Gerichten mehr als nur eine Rechtsfindung innerhalb des Gesetzeswortlauts (Auslegung im engeren Sinne). Der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung erfordert darüber hinaus, das nationale Recht, wo dies nötig und möglich sei, richtlinienkonform fortzubilden bzw. dieses nötigenfalls unangewendet zu lassen.

Zwischenergebnis: V ist 41 Jahre und arbeitet, seitdem er achtzehn Jahre alt ist, bei H. Da die sieben Jahre bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres wegen der Außerachtlassung des § 622 II S. 2 BGB mitgerechnet werden, beträgt die maßgebliche Beschäftigungsdauer 23 Jahre.

Die Kündigungsfrist bemisst sich damit gem. § 622 II S. 1 Nr. 7 BGB und beträgt sieben Monate zum Ende eines Kalendermonats.

cc) Die Kündigungsfrist beginnt damit am 24. Juni, 0:00 Uhr, sie endet am 31. Januar des Folgejahres.

Anmerkung: Die Kündigungsfrist wird damit wie jede Frist des BGB berechnet. Einzige Ausnahme: § 193 BGB gilt nicht! Das Arbeitsverhältnis endet damit immer mit Monatsende/dem Fünfzehnten eines Monats.

V wurde allerdings zum 31. Oktober gekündigt. Die Kündigungsfrist wurde daher nicht eingehalten.

dd) Fraglich ist jedoch, was für eine Rechtsfolge sich aus der Kündigung zum falschen Kündigungstermin ergibt.

Denkbar ist, dass die Kündigung aus diesem Grunde unwirksam ist.

Allerdings würde dadurch der Schutz des Kündigungsempfängers übertrieben.

Die Kündigungsfrist soll dem Arbeitnehmer die Möglichkeit geben, sich in angemessener Zeitspanne auf die Beendigung des Arbeitsverhältnisses einstellen zu können. Dieser Schutzzweck wird auch gewahrt, wenn an die Stelle der zu kurz bemessenen Frist die gesetzliche tritt.

Nach der Ansicht des 5. Senats des BAG kann eine Kündigung bei Nichteinhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist nicht als eine Kündigung zum nächst zulässigen Zeitpunkt ausgelegt werden (BAG, Life & Law 2/2011, 92, 95 ff. = NJW 2010, 3740 ff. ).

Die verfristete Kündigung kann daher nur deshalb die Beendigung zum nächst zulässigen Termin herbeiführen, weil sie gem. § 140 BGB in eine fristgemäße Kündigung umgedeutet werden kann.

Nach Ansicht des 2. und des 6. Senats des BAG sowie der h.L. ist eine Kündigung, die die Kündigungsfrist nicht einhält, nicht unwirksam, sondern es wird lediglich ihre sich aus dem Gesetz, Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag ergebende Wirkung verzögert. Im Wege der ergänzenden Auslegung der Kündigungserklärung gemäß § 133 BGB i.V.m. § 157 BGB analog (Hinweis: § 157 BGB kann nur analog angewendet werden, da die Kündigung kein Vertrag, sondern ein einseitiges Rechtsgeschäft ist. Aufgrund der Empfangsbedürftigkeit der Erklärung und der damit verbundenen Schutzwürdigkeit des Empfängers besteht aber eine vergleichbare Interessenlage) ist daher davon auszugehen, dass der Erklärende ihre Wirkung auch für den „richtigen" Zeitpunkt wünscht.

Anmerkung: Vgl. dazu ausführlich die Entscheidung in diesem Heft.

Die Kündigung wirkt daher zum richtigen Kündigungstermin, vorliegend also zum 31. Dezember (vgl. dazu auch Frage 2).

b) Keine soziale Rechtfertigung nach § 1 II KSchG nötig

Für den Fall, dass das Kündigungsschutzgesetz eingreift, wäre für die Wirksamkeit der Kündigung erforderlich, dass diese sozial gerechtfertigt ist, § 1 I, II KSchG.

Die sachliche Anwendbarkeit des ersten Abschnitts des KSchG bestimmt sich nach § 23 I S. 2 u. 3 KSchG.

Danach ist dieser Teil des KSchG in Betrieben, in denen in der Regel fünf (zehn, S. 3) oder weniger Arbeitnehmer beschäftigt sind, grundsätzlich nicht anwendbar.

Im Betrieb des H arbeiten lediglich vier Arbeitnehmer; die Kündigung ist damit nicht gem. § 1 I, II KSchG sozial zu rechtfertigen.

Anmerkung: In der Klausur können Sie sich an dieser Stelle sicherlich kürzer fassen.

c) Treuwidrigkeit der Kündigung, § 242 BGB

Wie oben dargelegt, ist die ordentliche Kündigung des V nicht am Maßstab des KSchG zu messen. Ordentliche Kündigungen außerhalb des KSchG sind damit grundsätzlich auch grundlos möglich.

Allerdings ist denkbar, dass die Kündigung wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unwirksam ist, § 242 BGB. Denn nach der Rechtsprechung des BVerfG ist zu berücksichtigen, dass das Interesse des Arbeitnehmers an seinem Arbeitsplatz durch Art. 12 I GG geschützt ist und deshalb im Zivilrecht i.R.d. Generalklauseln §§ 138, 242 BGB zu beachten ist.

Eine Kündigung ist danach unwirksam, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des zu kündigenden Arbeitnehmers ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme außer Acht gelassen hat.

Nach der Rechtsprechung des BAG ist die Auswahlentscheidung des Arbeitgebers in drei Stufen zu überprüfen:

aa) Vergleich der Sozialdaten

Auf einer ersten Stufe sind die Sozialdaten Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsverpflichtungen des gekündigten Arbeitnehmers mit denen vergleichbarer, aber ungekündigter Kollegen zu vergleichen. Vorliegend sind nur die Sozialdaten des J angegeben. Dieser ist jünger als V, weit weniger lang im Betrieb des H beschäftigt und hat im Gegensatz zu V keinerlei Unterhaltsverpflichtungen; die Sozialdaten des J weisen diesen als weniger schutzwürdig als V aus.

bb) Rechtfertigung

Auf zweiter Stufe ist für den Fall, dass einem schutzwürdigeren Arbeitnehmer gekündigt wurde, danach zu fragen, ob die Auswahl des Arbeitgebers durch betriebliche, persönliche oder sonstige Gründe nachvollziehbar ist.

Anmerkung: Dies dürfen Sie nicht mit der sozialen Rechtfertigung nach § 1 II KSchG verwechseln, die wesentlich strenger ist.

Vorliegend hatte der Arbeitgeber überhaupt keine Gründe zur Kündigung des V, vielmehr traf er die Entscheidung per Los.

cc) Interessenabwägung

Auf dritter Stufe wäre eine Interessenabwägung im Sinne einer praktischen Konkordanz durchzuführen. Diese ist jedoch entbehrlich, da bereits die Auswahlentscheidung willkürlich war und damit nicht das Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme gewahrt hat. Die Kündigung ist treuwidrig und gem. § 242 BGB unwirksam.

Anmerkung: Nach § 138 I BGB kann die Kündigung unwirksam sein, wenn insbes. verwerfliche Motive des Arbeitgebers hinzutreten.

4. Ergebnis

Die Kündigung ist unwirksam; damit ist die punktuelle Kündigungsschutzklage des V begründet.

Frage 2

Das Gericht wird sich zunächst mit dem Hauptantrag des V befassen. Falls dieser unbegründet ist, wird der Hilfsantrag des V geprüft.

Anmerkung: Die Erfolgsaussichten eines Hilfsantrags -- und damit auch seine Zulässigkeit -- sind erst zu prüfen, nachdem die des Hauptantrags geprüft wurden.

1. Erfolgsaussichten des Hauptantrags

Der Hauptantrag -- die punktuelle Kündigungsschutzklage des V -- hat Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

a) Zulässigkeit lt. Sachverhalt (+)

Von der Zulässigkeit ist laut Sachverhalt auszugehen.

b) Begründetheit

Die Klage des V wäre begründet, wenn die Kündigung unwirksam wäre. Die Unwirksamkeit der formgerechten Kündigung ist aber unbeachtlich, wenn die Präklusionsfrist der §§ 4, 7 KSchG verstrichen wäre. Dies war am 14. Juli der Fall (vgl. oben). Die Klageerhebung am 26. Juli ist damit nicht mehr fristgerecht, die Kündigung gilt damit in jeder Hinsicht als wirksam, § 7 KSchG.

c) Zwischenergebnis

Da die Kündigung als wirksam gilt, ist der Hauptantrag des V unbegründet.

2. Erfolgsaussichten des Hilfsantrags

Der Hilfsantrag des V ist erfolgreich, wenn er zulässig und begründet ist.

a) Zulässigkeit der Feststellungsklage

Für die Zulässigkeit des Hilfsantrags müssen die allgemeinen und besonderen Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sein.

aa) Rechtswegzuständigkeit

Zunächst müsste der gleiche Rechtsweg wie für den Hauptantrag gegeben sein. Vorliegend wird darüber gestritten, wie lange das Arbeitsverhältnis des V noch fortbesteht. Die Rechtswegzuständigkeit des Arbeitsgerichts ergibt sich daher aus § 2 I Nr. 3b ArbGG.

bb) Bedingungsfeindlichkeit von Prozesshandlungen

Prozesshandlungen als solche sind grundsätzlich bedingungsfeindlich. Dies würde zur Unzulässigkeit des Hilfsantrags führen. Da der Hilfsantrag jedoch unter der Bedingung steht, dass die Hauptsache unbegründet ist, also von einer Rechtsauffassung des Gerichts abhängt, liegt eine zulässige Rechtsbedingung vor.

cc) Nachträgliche eventuelle Klagehäufung

Der Hilfsantrag des V wurde innerhalb des Prozesses erhoben. Es handelt sich insoweit um eine Klagehäufung, § 46 II ArbGG, §§ 495, 260 ZPO. Diese ist zulässig, da die Klagen gegen den gleichen Beklagten gerichtet sind, dasselbe Gericht zuständig ist und jeweils im Urteilsverfahren entschieden wird. Eine nachträgliche Klagehäufung wird von der Rechtsprechung als Klageänderung gem. § 263 ZPO betrachtet. Daher ist erforderlich, dass entweder der Beklagte einwilligt oder das Gericht die Klageänderung für sachdienlich erachtet.

Vorliegend ist die Änderung sachdienlich, da der bisherige Prozessstoff Grundlage der weiteren Entscheidung bleibt und so einen weiteren Prozess vermeidet.

dd) Feststellungsinteresse

Weiterhin müsste V ein rechtliches Interesse an der Feststellung haben, § 256 I ZPO. Vorliegend hängt von der Feststellung ab, ob sein Arbeitsverhältnis bereits Ende Oktober oder erst Ende Dezember endet.

Dies ist für zukünftige Lohnzahlungen, aber auch andere Rechte als Arbeitnehmer, von Bedeutung. Das erforderliche Feststellungsinteresse ist damit gegeben.

Der Hilfsantrag ist damit zulässig.

b) Begründetheit

Der zulässige Hilfsantrag ist begründet, wenn das Arbeitsverhältnis tatsächlich erst zum 31. Dezember endet.

aa) Das fristgerechte Ende des Arbeitsverhältnisses ist der 31. Dezem­ber, vgl. oben.

bb) Allerdings könnte der Feststellung entgegenstehen, dass die Wirksamkeit der Kündigung wegen § 7 KSchG nicht mehr überprüft werden kann. In diesem Fall wäre die Feststellungsklage unbegründet.

Entscheidend ist damit vorliegend, wie weit die Präklusionswirkung der §§ 4, 7 KSchG reicht.

(1) Gem. § 7 KSchG gilt die Kündigung als rechtswirksam, wenn eine Kündigungsschutzklage nicht innerhalb der Frist des § 4 S. 1 KSchG erhoben wird. Die Frage nach der Kündigungsfrist ist aber -- wie oben bereits dargelegt -- keine Frage der Rechtswirksamkeit.

Die Präklusion gem. § 7 KSchG umfasst daher nicht die fehlerhafte Kündigungsfrist (BAG, Life&Law 2006, 456 ff. = NZA 2006, 791 ff.; BAG, NZA 2006, 1405 ff.).

(2) Nach einer völlig überraschenden Ansicht des 5. Senats ist eine verfristete Kündigung unwirksam und kann nur gem. § 140 BGB in eine fristgemäße Kündigung umgedeutet werden (BAG, Life & Law 2/2011, 92, 95 ff. = NJW 2010, 3740 ff. ).

Bedarf die Kündigung der Umdeutung gem. § 140 BGB in eine Kündigung mit zutreffender Frist, so soll die mit zu kurzer Frist ausgesprochene Kündigung nach Ansicht des 5. Senats des BAG gemäß §§ 4 S. 1, 7 KSchG als rechtswirksam fingiert werden und das Arbeitsverhältnis zum „falschen Termin" beenden, wenn die zu kurze Kündigungsfrist nicht als anderer Rechtsunwirksamkeitsgrund binnen drei Wochen nach Zugang der schriftlichen Kündigung im Klagewege (§ 4 S. 1 KSchG) geltend gemacht worden ist.

Das Urteil des 5. Senats ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend.

Zunächst ist es wenig überzeugend, die Auslegung zu verneinen. Eine Auslegung soll nur dann möglich sein, wenn der Arbeitgeber erklärt, dass er zum nächst zulässigen Zeitpunkt kündigt. In diesem Fall braucht man aber keine Auslegung mehr.

Aber auch die Anwendung der §§ 4, 7 KSchG ist verfehlt. Das zeigt die in § 4 S. 1 KSchG vorgegebene Formulierung des Feststellungsantrags. Sie geht dahin, dass das Arbeitsverhältnis „nicht aufgelöst" ist. Die „Nichtauflösung" des Arbeitsverhältnisses entspricht aber nicht dem Klageziel desjenigen, der die Nichteinhaltung der Kündigungsfrist rügt. Er ist ganz im Gegenteil der Auffassung, das Arbeitsverhältnis werde durch die Kündigung sehr wohl aufgelöst.

Die Präklusionsvorschrift des § 4 S. 1 KSchG kommt daher nicht zur Anwendung.

Anmerkung: Hier sind beide Ansichten vertretbar. Überzeugender es aber, die §§ 4, 7 KSchG nicht anzuwenden.

cc) Der Feststellungsantrag des V wäre damit begründet (a.A. vertretbar).

3. Ergebnis

Der Hauptantrag ist erfolglos, der Hilfsantrag hat Erfolg.

D) Zur Vertiefung

  • Zum Kündigungsschutz in Kleinbetrieben:

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht, Rn. 153 ff., 177 ff.

Hemmer/Wüst, Arbeitsrecht Karteikarten, Nr. 26.

hemmer-Methode: Die vorliegende Problematik der Kündigung in Kleinbetrieben muss Ihnen geläufig sein. Wenn der Ansatzpunkt des BVerfG einmal verinnerlicht ist, ergibt sich der Aufbau der Prüfung praktisch von allein. Entscheidend ist, dass der Arbeitgeber ein Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme erkennen lässt. Ist dies nicht der Fall, so muss die Kündigung unwirksam sein.

Praktisch besteht ein entscheidender Unterschied zur Prüfung der Sozialwidrigkeit bei Anwendbarkeit des KSchG: Die Beweislast für die Nichtwahrung des Mindestmaßes an sozialer Rücksichtnahme trifft den AN, während im Anwendungsbereich des KSchG der AG beweispflichtig ist, vgl. § 1 III S. 3 KSchG.

Schauen Sie sich an dieser Stelle den § 23 I KSchG einmal genau an und versuchen Sie, ihn zu verstehen. Leicht wird einem das Verständnis dieser Vorschrift vom Gesetzgeber nicht gemacht.

Die Vorschrift ist eine Übergangsvorschrift. Arbeitnehmern, die vor der Heraufsetzung der Mindestarbeitnehmerzahl auf mehr als zehn bereits Kündigungsschutz nach dem KSchG genossen haben, sollen diesen nicht verlieren (zur Frage, wie sog. Ersatzeinstellungen zu behandeln sind, d.h. es werden „alte" gegen „neue" AN eingestellt, vgl. Life & Law 2007, 457 ff.). Alt-AN, deren Arbeitsverhältnis schon vor 2004 begründet wurde, haben danach Kündigungsschutz, wenn zur Zeit des Zugangs der Kündigung regelmäßig mehr als fünf Alt-AN im Betrieb beschäftigt sind.