Die spinnen, die Rechten!" Darf der Bundespräsident sich so äußern? Na klar, wenn´s der Sache dient.

BVerfG, Urteil vom 10. Juni 2014, 1 BvE 4/13

von Life and Law am 01.11.2014

+++ Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten +++ Parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten +++ Organstreitverfahren +++ Chancengleichheit der Parteien +++ Art. 21 I, 38 I, 54 ff., 93 I Nr. 1 GG, §§ 63 ff. BVerfGG +++

Sachverhalt (verkürzt): Am 29. August 2013 nahm Bundespräsident B in einem Schulzentrum in Berlin-Kreuzberg an einer Gesprächsrunde vor mehreren hundert Berufsschülern im Alter zwischen 18 und 25 Jahren teil. Das Motto der Veranstaltung lautete: „22.09.2013 - Deine Stimme zählt!" Im Rahmen dieser Veranstaltung wies B auf die Bedeutung freier Wahlen für die Demokratie hin und forderte die Schülerinnen und Schüler zu sozialem und politischem Engagement auf.

Die Schülerinnen und Schüler bekamen die Möglichkeit, Fragen direkt an B zu richten. Eine Schülerin richtete sich wie folgt an B: „Ich wohne in Berlin-Hellersdorf, dort sind viele NPD-Plakate, einige davon sind abgerissen. Wenn Sie nicht gerade in der Stellung des Bundespräsidenten wären, hätten Sie da dann auch mitgemacht oder hat die Meinungsfreiheit für Sie ein größeres Gewicht?

Hierauf antwortete B u.a.: „Nein, beim Plakateabreißen hätte ich nicht mitgemacht. Wir haben so viele Möglichkeiten, uns gegen Rechtsradikale zu verteidigen (...). Bei uns gibt es Leute, die haben eine politische Ansicht, die die Mehrheit der Deutschen nicht teilt und wir sind in einem Land, in dem die diese Ansicht auch laut sagen dürfen. Eine freie Gesellschaft kann den Irrtum nicht verbieten und kann auch nicht verbieten, dass irrige Meinungen geäußert werden. Aber wir können sie bekämpfen. [...]. Wir brauchen Bürger, die auf die Straße gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen (...)."

Von einem weiteren Schüler auf das NPD-Verbotsverfahren angesprochen, äußerte sich B u.a. wie folgt: „Wir brauchen keine übertriebene Angst zu haben, dass diese Menschen, die die Geschichte nicht verstanden haben, dass die in Deutschland noch irgendwann einmal an die Macht kommen werden. [...]. Wir können die Partei verbieten, aber die Spinner, Ideologen und Fanatiker, die haben wir damit nicht aus der Welt geschafft."

Der Bundesverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) sieht die Partei durch diese Äußerungen in ihren Rechten verletzt. Er stellt deshalb beim BVerfG im Wege eines Organstreitverfahrens den Antrag festzustellen, dass der Antragsgegner B die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 I S. 1 und 38 I S. 1 GG dadurch verletzt hat, dass er

  1. die teils gewaltsamen Proteste in Berlin-Hellersdorf gegen die Antragstellerin öffentlich unterstützt und
  2. Mitglieder, Aktivisten und Unterstützer der Antragstellerin als „Spinner" bezeichnet

und auf diese Weise unter Verletzung seiner Pflicht zur parteipolitischen Neutralität zulasten der Antragstellerin in den laufenden Bundestagswahlkampf eingegriffen hat.

Wie sind die Erfolgsaussichten des Antrags zu beurteilen?

A) Sounds

1. Im Rahmen seiner Repräsentations- und Integrationsaufgabe kommt dem Bundespräsidenten hinsichtlich der Kommunikationsmittel und -formen ein Gestaltungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist.

2. Das Handeln des Bundespräsidenten findet seine Grenzen jedoch gem. Art. 20 III GG in der Bindung an die Verfassung und an die Gesetze.

3. Äußerungen des Bundespräsidenten, die die Chancengleichheit der Parteien berühren, können gerichtlich dann beanstandet werden, wenn er mit ihnen unter Vernachlässigung seiner Integrationsaufgabe und damit willkürlich Partei ergreift.

B) Problemaufriss

Das Urteil reiht sich ein in eine Vielzahl höchstrichterlicher Rechtsprechung der letzten Jahre betreffend den Umgang mit der NPD. Klassiker hierbei sind die Verbote und Beschränkungen von NPD-Versammlungen1 sowie die Zulassung der NPD zu öffentlichen Einrichtungen, gerade zu Stadthallen.

Diese Rechtsprechung war in der Vergangenheit häufig Gegenstand von Examensklausuren. Die vorliegende Entscheidung betritt Neuland und eröffnet so neue Prüfungsmöglichkeiten im von Examenskandidaten oft unterschätzten und vernachlässigten Verfassungsrecht.

BVerfG betritt Neuland

Konkret geht es um die Frage, ob sich der Bundespräsident im Rahmen der Amtsausübung in der Öffentlichkeit kritisch mit der NPD auseinandersetzen darf und ab wann er hierbei eine Grenze überschreitet, was gleichsam zu einer Verfassungsrechtsverletzung der Partei führt.

In diesem juristischen Spagat zwischen einem Eingehen auf gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeinpolitischen Herausforderungen einerseits und der Achtung der Rechte einer rechtspopulistischen Partei andererseits erhält der Bundespräsident nun Rückendeckung vom BVerfG.

Anmerkung: Eine weitere aktuelle Entscheidung, die ähnlich der vorliegenden etwas außergewöhnlich ist, ist die Entscheidung zum Antrag der NPD festzustellen, dass sie gerade nicht verfassungswidrig ist. Mit diesem Verfahren wollte die NPD dem Verbotsverfahren vorgreifen. Letztlich scheitert der Antrag bereits an § 13 BVerfGG, da in der dortigen abschließenden Aufzählung kein Verfahren einschlägig ist.2

C) Lösung

Der Antrag hat Aussicht auf Erfolg, wenn er zulässig und begründet ist.

Zulässigkeitsschema zum Organstreitverfahren nach Art. 93 I Nr. 1 GG

1. Zuständigkeit des BVerfG

2. Parteifähigkeit von Antragsteller und Antragsgegner

3. Antragsbefugnis

  • Streitgegenstand
  • Verletzungshandlung oder Unterlassen
  • Möglichkeit der Rechtsverletzung 4. Form 5. Frist 6. Rechtsschutzbedürfnis (soweit problematisch)

I. Zulässigkeit3

Der Antrag müsste zulässig sein.

1. Zuständigkeit des BVerfG

Die Zuständigkeit des BVerfG folgt aus Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG.

2. Parteifähigkeit

Bundespräsident B ist als oberstes Bundesorgan gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG parteifähig.

Auch die NPD ist als politische Partei nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG parteifähig, soweit es um ihre Rechte aus Art. 21 GG geht.4 Sie ist insoweit ein anderer Beteiligter i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG, der durch Art. 21 GG mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Der einschränkende Wortlaut des § 63 BVerfGG, der die parteifähigen Organe enumerativ aufzählt und unter den eine Partei nicht subsumiert werden könnte, muss insoweit verfassungskonform ausgelegt werden.

Verletzungen individueller Rechte, die nicht parteispezifisch sind, wie etwa eine Beeinträchtigung des Eigentums, Art. 14 GG, können hingegen nur mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden.5

hemmer-Methode: Ist eine politische Partei Antragstellerin, sollten Sie diese Abgrenzung in der Klausur zumindest kurz ansprechen.

Das Recht einer Partei, einen Organstreitantrag nach Art. 93 I Nr. 1 GG zu stellen, ist der verfahrensrechtliche Teil des sog. Parteienprivilegs. Anders als sonstige Vereine ist eine Partei nicht auf die Verfassungsbeschwerde verwiesen, die erst nach Rechtswegerschöpfung und unter Beachtung des Grundsatzes der Subsidiarität erhoben werden kann, sondern sie kann direkt einen Organstreitantrag zum BVerfG stellen. Materiell-rechtlich verkörpert Art. 21 II GG dieses Parteienprivileg, wonach nur das BVerfG eine Partei verbieten kann und Parteien bis zu diesem Verbot als verfassungsgemäß gelten und genauso behandelt werden müssen wie andere Parteien, vgl. § 5 ParteiG.

3. Verfahrensgegenstand

Es müsste ein tauglicher Verfahrensgegenstand vorliegen.

Verfahrensgegenstand ist nach § 64 I BVerfGG die Frage, ob eine rechtserhebliche Maßnahme des Antragsgegners die Antragstellerin in ihren ihr durch die Verfassung verliehenen Rechten verletzt. Als rechtserhebliche Maßnahme kommt jegliches Verhalten in Betracht, das geeignet ist, die Rechtsstellung der Antragstellerin zu beeinträchtigen.6 Indem die Antragstellerin behauptet, B habe die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Äußerungsbefugnis überschritten und damit zulasten der Antragstellerin unzulässig in den Wahlkampf eingewirkt, wendet sie sich gegen eine rechtserhebliche Maßnahme.

hemmer-Methode: Da die erforderliche Rechtserheblichkeit nur dann bejaht werden kann, wenn die Antragstellerin durch die Maßnahme in ihren Rechten betroffen ist, kann sie auch erst im Rahmen der Antragsbefugnis erörtert werden.

Wird sie bereits im Rahmen des Antragsgegenstandes erörtert, empfiehlt sich in der Antragsbefugnis gleichwohl ein kurzer Hinweis, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die rechtserhebliche Maßnahme die Antragstellerin in ihren verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten beeinträchtigt.

4. Antragsbefugnis

Die Antragstellerin müsste gem. § 64 I BVerfGG schlüssig behaupten, dass sie möglicherweise durch die Maßnahme in ihren verfassungsrechtlich begründeten Rechten verletzt ist.

Nach dem Vortrag der Antragstellerin scheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass der Antragsgegner durch die angegriffenen Äußerungen das Recht der Antragstellerin auf Chancengleichheit bei Wahlen aus Art. 21 I S. 1, 38 I S. 1 GG verletzt hat. Sie ist deshalb antragsbefugt gem. § 64 I BVerfGG.

hemmer-Methode: Bedenken Sie dabei, dass die Beteiligten im Organstreitverfahren gerade nicht als natürliche Personen auftreten. Eine Verletzung von Grundrechten kann daher keinesfalls gerügt werden, da die Beteiligten am Organstreit nicht grundrechtsberechtigt, sondern grundrechtsverpflichtet sind.

5. Form und Frist

Von der Einhaltung der Form- und Fristvorschriften der §§ 23 I, 64 II, III BVerfGG ist mangels entgegenstehender Anhaltspunkte auszugehen.

6. Zwischenergebnis

Der Antrag ist zulässig.

II. Begründetheit

Fraglich ist, ob der Antrag auch begründet ist. Dies wäre gem. § 67 S. 1 BVerfGG der Fall, wenn die Äußerungen des B verfassungswidrig wären und die Antragstellerin daher in ihrem Recht auf Wahrung der Chancengleichheit politischer Parteien verletzt wäre.

1. Grundsätzliche Äußerungsbefugnis und ihre Grenzen

Zunächst müsste dem Bundespräsidenten eine grundsätzliche Befugnis zustehen, sich öffentlich über Parteien zu äußern. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob einer solchen Äußerungsbefugnis Grenzen gesetzt sind und wie sie zu bestimmen sind.

a) Grundsätzliche Äußerungsbefugnis

Der Bundespräsident repräsentiert Staat und Volk der Bundesrepublik Deutschland nach außen und innen und soll die Einheit des Staates verkörpern.7 Wie der Bundespräsident seine Repräsentations- und Integrationsaufgaben mit Leben füllt, entscheidet der Amtsinhaber grundsätzlich selbst. Um seine Aufgaben insoweit bestmöglich erfüllen zu können, muss ihm für die Wahl der Kommunikationsmittel ein weiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden. Der Bundespräsident bedarf daher, auch soweit er auf Fehlentwicklungen hinweist oder vor Gefahren warnt und dabei die von ihm als Verursacher ausgemachten Kreise oder Personen benennt, über die seinem Amt immanente Befugnis zur öffentlichen Äußerung hinaus keiner gesetzlichen Ermächtigung.

Anmerkung: Das BVerfG zitiert für diese Herleitung keine Vorschrift. Im Examen empfiehlt es sich jedoch, nah am Gesetz zu arbeiten! So lässt sich eine Äußerungsbefugnis z.B. mittelbar aus Art. 56 S. 1 GG entnehmen. Im Amtseid verpflichtet sich der Bundespräsident dazu, seine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen und Schaden von ihm zu wenden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, benötigt er einen gewissen Gestaltungsspielraum.

b) Grundsätzliche Grenzen der Äußerungsbefugnis

Fraglich ist, wie die Grenzen dieser Äußerungsbefugnis zu ziehen sind.

aa) Parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten

Den verfassungsrechtlichen Erwartungen an das Amt des Bundespräsidenten und der gefestigten Verfassungstradition entspricht es, dass der Bundespräsident eine gewisse Distanz zu Zielen und Aktivitäten von politischen Parteien und gesellschaftlichen Gruppen wahrt.8

Daraus allein folgen jedoch keine justiziablen Vorgaben für die Amtsausübung. Inwieweit sich der Bundespräsident i.R. seiner Amtsführung am Leitbild eines „neutralen Bundespräsidenten" orientiert, unterliegt weder generell noch im Einzelfall gerichtlicher Überprüfung. Vielmehr unterfällt die Entscheidung hierüber dem o.g. Gestaltungsspielraum.

bb) Bindung an Recht und Gesetz

Jedoch ergibt sich eine Grenze der Äußerungsbefugnis aus Art. 20 III GG. Der Bundespräsident übt Staatsgewalt i.S.v. Art. 20 II GG aus und ist gem. Art. 1 III GG und Art. 20 III GG an die Grundrechte und an Recht und Gesetz gebunden. Dies kommt auch in der Eidesformel, Art. 56 S. 1 GG, mittelbar in den Immunitätsregeln nach Art. 60 IV GG i.V.m. Art. 46 II GG sowie in den Voraussetzungen einer Anklage gem. Art. 61 I S. 1 GG wiederholt zum Ausdruck. Der Bundespräsident steht in keinerlei Hinsicht „über dem Gesetz".

Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit

Zu den vom Bundespräsidenten zu achtenden Rechten gehört das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 I GG, soweit es um die Chancengleichheit bei Wahlen geht i.V.m. Art. 38 I GG.

Dieses Recht kann dadurch verletzt werden, dass Staatsorgane zugunsten oder zulasten einer politischen Partei in den Wahlkampf einwirken.9 Eine die Gleichheit ihrer Wettbewerbschancen beeinträchtigende Wirkung kann für eine Partei auch von der Kundgabe negativer Werturteile über ihre Ziele und Betätigungen ausgehen.10 Wann dies der Fall ist, hängt von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab.

hemmer-Methode: Was das BVerfG an dieser Stelle macht, ist letztlich nichts anderes als die Anwendung der Regeln über die praktische Konkordanz.

Das Recht des Bundespräsidenten zur Äußerung über gesellschaftliche Entwicklungen und allgemeinpolitischen Herausforderungen muss in einen gerechten Ausgleich gebracht werden mit dem Recht einer Partei auf Chancengleichheit bei Wahlen.

unterschiedliche Maßstäbe für Bundesregierung und Bundespräsident

Das BVerfG hat für die Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung von einem unzulässigen parteiergreifenden Ein-wirken auf den Wahlkampf Kriterien entwickelt, mit denen verhindert werden soll, dass die Öffentlichkeitsarbeit durch den Einsatz öffentlicher Mittel den Regierungsparteien zu Hilfe kommt und die Oppositionsparteien bekämpft. Hiernach verwehrt es das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit als ein wesentlicher Bestandteil der demokratischen Grundordnung staatlichen Stellen z.B., eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzungen und Betätigungen zu verdächtigen, wenn ein solches Vorgehen bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht.11

Diese Kriterien lassen sich jedoch nicht ohne weiteres auf den Bundespräsidenten über-tragen. Weder steht der Bundespräsident mit den politischen Parteien in direktem Wett-bewerb um die Gewinnung politischen Einflusses, noch stehen ihm Mittel zur Verfügung, die es ihm, wie etwa der Bundesregierung, ermöglichten, durch eine aufgreifende Informationspolitik auf die Meinungs- und Willensbildung des Volkes einzuwirken. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Bundespräsidenten folgt anderen Gegebenheiten, als die mit direkten politischen Konkurrenten. Folglich sind die Grenzen der Äußerungsbefugnisse des Bundespräsidenten gesondert zu bestimmen.

individueller Maßstab für den Bundespräsidenten

In Erfüllung seiner Repräsentations- und Integrationsaufgaben obliegt es dem Bundespräsidenten, im Interesse der Wahrung und Förderung des Gemeinwesens das Wort zu ergreifen und die Öffentlichkeit durch seine Beiträge auf von ihm identifizierte Missstände und Fehlentwicklungen - insbesondere solche, die den Zusammenhalt der Bürger und das friedliche Zusammenleben aller Einwohner gefährden - aufmerksam zu machen sowie um Engagement bei deren Beseitigung zu werben. Gehen Risiken und Gefahren nach Einschätzung des Bundespräsidenten von einer bestimmten politischen Partei aus, ist er nicht gehindert, die von ihm erkannten Zusammenhänge zum Gegenstand seiner öffentlichen Äußerungen zu machen. Äußerungen des Bundespräsidenten sind dabei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange sie erkennbar einem Gemeinwohlziel verpflichtet und nicht auf die Ausgrenzung oder Begünstigung einer Partei um ihrer selbst willen angelegt sind. Der Bundespräsident ist insbesondere nicht gehindert, sein Anliegen auch in zugespitzter Wortwahl vorzubringen, wenn er dies für angezeigt hält.

Mit der Repräsentations- und Integrationsaufgabe des Bundespräsidenten nicht mehr im Einklang stehen Äußerungen, die keinen Beitrag zur sachlichen Auseinandersetzung liefern, sondern ausgrenzend wirken, wie dies grundsätzlich bei beleidigenden, insbesondere solchen Äußerungen der Fall sein wird, die in anderen Zusammenhängen als „Schmähkritik" qualifiziert werden.

Anmerkung: Damit verweist das BVerfG letztlich auf die Maßstäbe der von Art. 5 I S. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit. Nicht in den Schutzbereich des Art. 5 I S. 1 GG fällt nach der Rspr. des BVerfG die sog. „Schmähkritik", also ein Werturteil, das nicht geleitet ist von der Sachdiskussion, sondern vielmehr der Diffamierung des Gegenübers dient, losgelöst von jeglichem Sachbezug.

Unter Berücksichtigung eines weiten Einschätzungsspielraums des Bundespräsidenten einerseits und der Wahrung der Rechte einer Partei andererseits, erscheint es geboten, aber auch ausreichend, negative Äußerungen des Bundespräsidenten über eine Partei gerichtlich daraufhin zu überprüfen, ob er mit ihnen unter evidenter Vernachlässigung seiner Integrationsfunktion und damit willkürlich Partei ergriffen hat.

Anmerkung: Dies ist eine für die vorliegende Fallentscheidung maßgebliche Weichenstellung. Indem das BVerfG seine Prüfungskompetenz auf eine Willkürkontrolle beschränkt, statt z.B. die Äußerungen des Bundespräsidenten einer Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterziehen, ebnet es den Weg für das Ergebnis des vorliegenden Falles.

2. Subsumtion im vorliegenden Fall

Zu prüfen ist, ob nach diesem Maßstab die von der Antragstellerin angegriffenen Äußerungen des Bundespräsidenten verfassungsrechtlich zu beanstanden sind.

a) Unterstützung der Proteste

Soweit die Antragstellerin sich in ihren Rechten dadurch verletzt sieht, dass der Antragsgegner Proteste gegen die Antragstellerin in Berlin-Hellersdorf öffentlich unterstützt habe oder auch nur gutgeheißen hätte, bleibt der Antrag erfolglos.

Dass der Bundespräsident gewaltsame Proteste gegen die Antragstellerin unterstützt oder auch nur gutgeheißen hätte, lässt sich bei der gebotenen objektiven Auslegung seinen Äußerungen nicht entnehmen. Der Bundespräsident hat eingangs seiner Antwort ausdrücklich darauf hingewiesen, bereits das Abreißen von Plakaten nicht zu billigen. Es können daher keinerlei ernsthafte Zweifel bestehen, dass er erst recht gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Antragstellerin ablehnt. Vielmehr können seine Äußerungen diesbezüglich nur dahingehend verstanden werden, dass er lediglich in der Sache auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nach Art. 5 I S. 1, 8 GG hingewiesen und zum politischen Meinungskampf aufgefordert hat. Hierzu war er befugt.

b) Bezeichnung als „Spinner"

Fraglich ist jedoch, ob mit der Bezeichnung als „Spinner" eine Grenze überschritten wurde.

Dieses negative Werturteil kann isoliert betrachtet durchaus als diffamierend empfunden werden und auf eine unsachliche Ausgrenzung der so Bezeichneten hindeuten. Hier indes dient, wie sich aus dem Duktus der Äußerungen des Bundespräsidenten ergibt, die Bezeichnung als „Spinner" - neben derjenigen als „Ideologen" und „Fanatiker" - als Sammelbegriff für Menschen, die die Geschichte nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, rechtsradikale, nationalistische und antidemokratische Überzeugungen vertreten.

Die mit der Bezeichnung „Spinner" vorgenommene Zuspitzung sollte den Teilnehmern an der Veranstaltung nicht nur die Unbelehrbarkeit der so Angesprochenen verdeutlichen, sondern auch hervorheben, dass sie ihre Ideologie vergeblich durchzusetzen hofften, wenn die Bürger ihnen „Grenzen aufweisen".

Indem der Bundespräsident, anknüpfend an die aus der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus zu ziehenden Lehren, zu bürgerschaftlichem Engagement gegenüber politischen Ansichten aufgerufen hat, von denen seiner Auffassung nach Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen und die er von der Antragstellerin vertreten sieht, hat er für die dem Grundgesetz entsprechende Form der Auseinandersetzung mit solchen Ansichten geworben und damit die ihm von Verfassungs wegen gesetzten Grenzen negativer öffentlicher Äußerungen über politische Parteien nicht überschritten.

Anmerkung: Diese Argumentation kann man überzeugend finden, zwingend ist sie aber nicht. Es erscheint zumindest fraglich, ob die bei isolierter Betrachtung diffamierende Wirkung des Wortes „Spinner" tatsächlich an Gewicht verliert, wenn es im Zusammenhang mit den Begriffen „Fanatiker" und „Ideologen" als Sammelbegriff für Geschichtsverdrossene verwendet wird.

Letztlich kann man dieses Argument auch so lesen: „Wer zu dumm ist, die Geschichte zu verstehen, muss es sich gefallen lassen, vom Bundespräsidenten als „Spinner" beleidigt zu werden."

Angesichts der Tatsache, dass die Frage, ob jemandem der Schutz der Verfassung zuteilwird, nicht von dessen Intelligenz abhängen kann, wäre ein anderes Ergebnis ebenfalls vertretbar.

III. Endergebnis

Der Antrag hat keine Aussicht auf Erfolg, da er zwar zulässig, aber unbegründet ist.

D) Kommentar

(mg). Das Urteil wird sich gegenüber vernünftig denkenden Menschen im Ergebnis kaum moralischen Bedenken ausgesetzt sehen. Die Frage, ob es in rechtlicher Hinsicht unzweifelhaft ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Ein anderes Ergebnis ließe sich rechtlich gesehen sicherlich vertreten, dürfte aber politisch kaum gewollt gewesen sein. Das triumphale Feiern der Entscheidung als „Ohrfeige" für den Bundespräsidenten seitens der NPD hat man jedenfalls verhindert.

Das BVerfG bestätigt durch das Urteil letztlich auch seine konsequente Rechtsprechung auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit nach Art. 5 GG, indem es mittelbar dessen Maßstäbe anwendet und damit erneut die herausragende Bedeutung der (politischen) Meinungsbildung hervorhebt. Hinter diese haben andere Interessen wie z.B. das allgemeine Persönlichkeitsrecht12 oder, wie hier im Fall, das Recht der Parteien auf Chancengleichheit bei Wahlen nicht selten zurückzutreten. Ob es wirklich die demokratische Willensbildung und die öffentliche Auseinandersetzung als Säule der Demokratie beeinträchtigt, wenn sich die Streitenden etwas stärker zurückhalten und auf sachliche Kritik begrenzen, darf bezweifelt werden.13

Wer glaubt, dieses Urteil stelle eine ausnahmsweise Privilegierung des Bundespräsidenten dar, der irrt. Der SaarlVerfGH hat mit Urteil vom 08.07.2014 - Lv 5/14 entschieden, dass es mit der Verfassung im Einklang steht, wenn ein Bildungsminister eines Bundeslandes in Bezug auf die Anhänger der NPD von „brauner Brut", einem „Mob, der aus den Köpfen kriecht", und „den Nazis von heute" spricht. Diese Wertungen mögen denjenigen der breiten Bevölkerung entsprechen. Ist dies auch die Ansicht des BVerfG, sollten einem erfolgreichen Verbotsverfahren jedenfalls keine materiellen Hindernisse entgegenstehen.

E) Zur Vertiefung

  • Zur Rechtsstellung der Parteien im Grundgesetz Hemmer/Wüst, Staatsrecht II, Rn. 360 ff.

F) Wiederholungsfrage

  • Was bedeutet der Begriff Parteienprivileg?****

Was bedeutet der Begriff Parteienprivileg?

Das Parteienprivileg hat eine materiell-rechtliche und eine prozessuale Säule. Prozessual bedeutet es, dass eine Partei das Privileg genießt, einen Organstreitantrag stellen zu können und nicht auf die Verfassungsbeschwerde verwiesen zu sein. Materiell-rechtlich beinhaltet das Parteienprivileg das Verbotsmonopol des BVerfG nach Art. 21 II GG. Nur das BVerfG darf Parteien verbieten und bis zu einem solchen Verbot sind Parteien als verfassungsgemäß und damit so wie alle anderen Parteien auch zu behandeln.


  1. BVerfG, NVwZ-RR 2007, 641 ff = Life & Law 2008, 123

  2. BVerfG, Beschluss vom 20.02.2013, 2 BvE 11/12 = Life & Law 07/2013

  3. Vgl. Hemmer/Wüst, Staatsrecht II, Rn. 3 ff.

  4. Vgl. BverfGE 1, 208, 223 ff = NJW 1952, 657; 82, 322, 335 = NJW 1990, 3001

  5. Vgl. Morgenthaler in BeckOK GG, Art. 93 GG, Rn. 22.

  6. Vgl. Morgenthaler in BeckOK GG, Art. 93 GG, Rn. 24.

  7. Vgl. BVerfG, Urteil vom 10.06.2014, 2 BvE 2/09, Rn. 91 ff.

  8. Vgl. Dreier, Grundgesetz, Bd. 2, Art. 54 GG, Rn. 24.

  9. Vgl. BVerfGE 44, 125 (146).

  10. Vgl. BVerfGE 40, 287 (293).

  11. Vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.02.2013, 2 BvE 11/12 = NVwZ 2013, 568 ff.

  12. Vgl. z.B. BVerfG, Beschluss vom 02.07.2013 -- 1 BvR 1751/12 = NJW 2013, 3021 ff.

  13. So etwa auch der lesenswerte Beitrag von Hufen in JuS 2014, 89.